Rezension: Ian Kershaw HITLER 1936-1945
Über den Nationalsozialismus gibt es eine Unmenge an Literatur. Auch Hitler -Biographien stapeln sich en masse. Ian Kershaws Buch über den „Führer“ hebt sich wohltuend von dem zum Teil nur sensationsgeilen Schund ab. Auf beeindruckende Weise gelingt es ihm die Entwicklungsgeschichte der Nazis mit der Person Hitlers zu verweben.
Kershaw hat lange Zeit gezögert, bis er sich doch entschloß eine Hitler-Biographie zu schreiben.“ Bis vor wenigen Jahren hatte ich nie daran gedacht, eine Hitler-Biographie zu schreiben“( S.7. Band 1). Gestüzt auf seine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat er dann doch den „Sprung hin zum Individuuum“ gewagt und mehr als erfolgreich bewältigt.
Die „Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte“: der revolutinäre Marxist („Trotzkist“) Roman Rosdolsky hat dazu eine tiefgehende Studie verfaßt. Gänzlich anders Karl Kautskys -interessantes- Buch über den Ursprung des Christentums“: bei ihm gibt es so etwas wie ein „Christentum ohne Christus“.
Natürlich bedurfte es der allgemeinen krisenhaften wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse, damit in Europa nach dem Ersten Welkrieg der Faschismus entstehen und sich ausbreiten konnte. Aber gerade eine so autoritäre Erscheinung wie der Faschismus bedarf spezifischer Gestalten, die die „Führer“-Rolle einnehmen. Kershaw geht historisch fundiert an die Verknüpfung von allgemeiner Historie und Persönlichkeitsgeschichte heran.
Während im 1.Band der Biographie (1889-1936) der Aufstieg der Nazi-Bewegung, deren Machtergreifung 1933 bzw.der Prozeß der Konsolidierung der Macht bis 1936 gezeigt wird und die zentrale Rolle die der „charismatische“ Führer dabei spielte, setzt der vorliegende 2.Band mit der bereits -relativ- konsolidieretn Herrschaft der Nazis ein.
Hitler hat sich bereits -1934- der SA-Führung entledingt(“ Nacht der langen Messer), er profiliert sich zunemhmend gegenüber seinen konservativen Bündnispartnern (die ihm die Macht aushändigten!) und heimst „Erfolge“ wie die „Rheinlandbesetzung ein.
Seine Verehrung -auf der Basis solcher „Errungenschaften“- nimmt zunehmend religöse Formen an. Er selbst sieht sich immer mehr darin bestärkt von der „Vorsehung“ für die „Rettung Deutschlands“ auserkoren zu sein.
Obwohl sein Denken, seine Politik zunehmend wahnhafte Züge annimmt, wäre es gänzlich verfehlt ihn schlicht als „Verrückten“ abzustempeln.
Hitler hat im Gegenteil im Laufe seiner politischen Karriere „viel dazugelernt“, er beweist taktisches Geschick – insbesonders was die anfängliche Balance zwischen traditionellen Eliten und der NS-Bewegung betrifft. Er erkennt voll die Nachgiebigkeit von Frankreich und England („appeasement“) und nützt sie brutal zu Einmärschen in andere Länder aus (Band 2 S.31 ff).
Der Antisemitismus wird vorerst eher „gedämpft“ gehandhabt. Erst später setzt eine zunehmende Radikalisierung bis hin zum Holocaust ein ( Band 2 S.183 ff).
Hitler ist kulturell nicht unbeleckt, verfügt über rhetorisches Talent. Mit Beharrlichkeit und Skrupellosigkeit konnte er sich seiner innerparteilichen Widersacher entledigen, ein Bündnis mit der traditionellen, nationalistischen Rechten eingehen und einmal an Macht systematisch die Linke ausschalten und die Reste der bürgerlich parlamentarischen Demokratie beseitigen.
Hitler und den Nazis ging es vorrangig um Machteroberung bzw. Machterhaltung- die Ideolgie wurde eher „pragmatisch“ gehandhabt.
Die imperialistischen Konzepte lagen weitgehend vor (entwickelt u.a. von der Reichwehr)- die Nazis mit Hitler als ihrem Frontmann setzten sie eisern um.
Kershaw hält den zunehmenden „Realitätsverlust“ Hitlers – die Leugnung negativer Ereignisse – insbesonders nach Stalingrad und der folgenden „Retourentwicklung“ des Deutschen Reiches fest.
Als Person war Hitler weitestgehend monoman, „ein narzistischer, größenwahnsinniger, selbsternannter nationaler Retter“ (Band 2 S. 1081). Seine endlosen Monologe und Wutausbrüche galten als berüchtigt. Zu seiner Lebensgefährtin Eva Braun hatte er ein skurriles Verhältnis: sie wurde vor der Öffentlichkeit möglichst versteckt (sic!), die makabre „Heirat“ erfolgte unmittelbar vor dem gemeinsamen Selbstmord im Führerbunker 1945.
Es war diese braune Bewegung und an ihrer Spitze ein bis zum Schluß von sehr, sehr vielen nicht in Frage gestellter „Führer“ Adolf Hitler, der Deutschland ins Verderben stieß und der Welt das zweite globale Abschlachten im 20.Jahrhundert bescherte. Gut zu wissen, wie es dazu kam: aus welchen gesellschaftlichen Gründen und auch genau die persöliche Disposition /Charakterstuktur desjenigen zu kennen, der all diese Schrecken dirigierte. Nur auf der Basis eines solchen umfassénden Wissens, wird es gelingen den heutigen autoritären, rechtspopulistischen, rechtsextremen und offen faschistischen Gefahren wirksam zu begegnen. Ian Kershaws Buch liefert dazu einen exzellenten Beitrag.
Wien, 15.4.2012, Hermann Dworczak
Ian Kershaw: HITLER 1936 -1945. DVA Stuttgart 2000, 1343 Seiten.