[Wilfried] „Solidarische Stadt“, ein Weg, um aus der Sackgasse der Flüchtlingspolitik herauskommen?
Wie aus der Sackgasse der Flüchtlingspolitik herauskommen, wenn der staatliche Wind in die falsche Richtung bläst? Das Konzept der „Zufluchtstädte“ (Sanctuary Cities) bzw. „solidarischen Städte“, das bereits in über 500 Städten und Gemeinden in den USA gelebt wird, könnte neue Ansätze bieten.
Sarah Schillinger (Uni Bern) hat einen Aufsatz zur Verfügung gestellt, um das Konzept bekannter zu machen (siehe unten bzw. Attachment). Er wurde in „ABC der globalen Unordnung“ (https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/abc-der-globalen-unordnung/) das Stichwort „Solidarische Stadt“ publiziert.
Zudem hier noch der Hinweis auf zwei andere Publikationen:
– Fallstudie zu Toronto als Solidarity City für die Rosa Luxemburg Stiftung (2019) (https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Broschur_SolidarischeStaedte.pdf)
– Einführungstext zu Urban Citizenship in der Publikation „Stadt für alle?!“ (Mandelbaum-Verlag, Wien 2018): https://solidarity-city.eu/app/uploads/2018/07/Schilliger_Stadt_fuer_Alle_2018.pdf
Wünsche gute Inspirationen – und uns allen, dass es bald auch in Österreich Beispiele von „solidarischen Städten“ geben wird!
Solidarische Grüße
Wilfried
Solidarische Stadt
Das Konzept der Solidarischen Stadt ist zu einem wichtigen Bezugspunkt von sozialen Bewegungen, NGOs, migrantischen Vereinigungen, Kommunalpolitik und Stadtverwaltungen geworden, die sich auf lokaler Ebene der zunehmend restriktiven nationalen und europäischen Grenz- und Migrationspolitik widersetzen. Städte werden dabei als „Möglichkeitsräume“ (Bauder 2016) gesehen, in denen nationalstaatliche Grenzziehungen und Abschottungspolitiken in Frage gestellt werden können. Zudem gelten sie als Laboratorien von Demokratie und Solidarität, um allen Bewohner*innen Zugang zu einem Leben in Würde zu gewähren.
Zu den Initiativen für eine Solidarische Stadt zählen erstens Politiken auf lokaler Ebene, durch die Migrant*innen mit prekärem Aufenthaltsstatus (Sans-Papiers, Abgewiesene Asylbewerber*innen) vor Abschiebungen geschützt werden. Inspirierend sind dabei die Erfahrungen in Nordamerika, wo die Bewegung der „Sanctuary Cities“ (Zufluchtsstädte) – heute 500 Städte und Gemeinden – existiert, seit in den 1980er Jahren eine Million Menschen aus den Kriegszonen Zentralamerikas in die USA und nach Kanada flohen. Da ihnen dort nur begrenzt Asyl gewährt wurde, setzten sich migrantische Initiativen und religiöse Vereinigungen u.a. mittels Kirchenasyl für ihre Aufenthaltssicherheit ein. In jüngster Zeit wurden auch in mehreren deutschen Städten Initiativen gegründet, die mittels Bürger*innenasyl versuchen, Geflüchtete vor Abschiebungen zu schützen.
Eine zweite bedeutende politische Intervention auf lokaler Ebene umfasst das Bekenntnis zu einer Stadt des Willkommens. So haben sich Bürgermeister*innen in Italien oder Spanien für eine Öffnung ihrer Häfen ausgesprochen, um Seenot-Gerettete aufzunehmen. Auch in Deutschland signalisierten Stadtregierungen ihre Bereitschaft, Geflüchteten Zuflucht zu bieten. Auf zivilgesellschaftlicher Seite sind breite Bündnisse (z.B. die Kampagnen „Seebrücke“ und „We’ll Come United“) entstanden, die sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine menschenwürdige Aufnahme von Geflüchteten fordern.
Drittens fasst die Bezeichnung Solidarische Stadt konkrete kommunale Politiken, die allen Bewohner*innen unabhängig von Herkunft, Aufenthaltsstatus und Einkommen die gleichen Rechte und Zugänge zu städtischer Infrastruktur und zu sozialen Dienstleistungen gewähren. In den nordamerikanischen Sanctuary Cities untersagt eine „Don’t Ask Don’t Tell“-Politik den städtischen Angestellten, bei öffentlichen Diensten nach dem Migrationsstatus zu fragen (»Don’t Ask»), und, falls dieser doch bekannt wird, ihn nicht an andere staatliche Behörden weiterzugeben (»Don’t Tell»). In New York steht allen, die ihre Identität und den Wohnsitz in der Stadt nachweisen können, ein offizieller kommunaler Ausweis zu, der von öffentlichen Verwaltungen, Schulen, privaten Unternehmen und der städtischen Polizei als Ausweisdokument akzeptiert wird (Lebuhn 2017).
Auf theoretischer Ebene ist das Konzept der Solidarischen Stadt eingebettet in die Debatten um Urban Citizenship. Im Unterschied zum herkömmlichen Citizenship-Verständnis knüpft Urban Citizenship soziale Rechte nicht an Nationalität und Aufenthaltsstatus, sondern an den Wohnort und Lebensmittelpunkt. Dabei wird nicht Migration, sondern die ungleiche Verteilung sozialer Rechte und der ungleiche Ressourcenzugang problematisiert. Citizenship gilt als politische Praxis und Konfliktfeld, in dem sich Akteur*innen unabhängig von ihrem Status Rechte nehmen. Hierin liegt ein Anknüpfungspunkt zu aktuellen Recht-auf-Stadt-Konzepten, in denen der Widerstand gegen Gentrifizierung und gegen die Kommodifizierung öffentlicher Räume, die kollektive Aneignung städtischer Infrastruktur und Mitgestaltungsrechte auf allen städtischen Ebenen im Sinne einer »urbanen Demokratie« im Zentrum steht.
Was all diese Initiativen verbindet, die mit dem Slogan einer Solidarischen Stadt mobilisieren, ist eine konkrete Utopie, die jenseits politischer Sachzwänge aus der Defensive gegenüber der aktuellen Migrations- und Asylpolitik herausführt, indem migrations- und sozialpolitische Fragen verknüpft werden, statt sie gegeneinander auszuspielen. Darüber hinaus bietet das Konzept der solidarischen Stadt eine Klammer für breitere Bündnisse alltäglicher Kämpfe zu Armut, Wohnen, städtischer Infrastruktur sowie kultureller und demokratischer Teilhabe. Gleichwohl darf die städtische Ebene nicht überschätzt werden, denn trotz Handlungsspielräumen sind Städte eingebunden in globale Machtgefüge und der Nationalstaat bleibt ein bedeutendes Terrain politischer Auseinandersetzungen.
Zum Weiterlesen
Bauder, Harald (2016): Possibilities of Urban Belonging. In: Antipode: 48 (2), 252–271.
Christoph, Wenke/Kron, Stefanie (Hg.) (2019): Solidarische Städte in Europa. Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin.
Lebuhn, Henrik (2017): Urban Citizenship. Zum Potenzial eines stadtpolitischen Konzepts. In: Krenn, Martin/Morawek, Katharina (Hg.): Urban Citizenship. Zur Demokratisierung der Demokratie. Wien, 26-45.
Autor*in:
Sarah Schilliger, Dr., Soziologin, Lehrbeauftragte am Zentrum Gender Studies der Universität Basel, forscht aus einer intersektionalen Perspektive zu Migration, Care, Citizenship-Politiken und sozialen Bewegungen, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Rosa Luxemburg Stiftung und engagiert in der Bewegung „Wir alle sind Bern“.
Kontaktdaten:
Dr. Sarah Schilliger | Lehrbeauftragte und Assoziierte Postdoc Forscherin
Universität Basel | Philosophisch-Historische Fakultät | Departement Gesellschaftswissenschaften | Zentrum Gender Studies
Mail: w.hanser@gmx.at
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