[iso-aktuell] Artikel „Nicaragua schmerzt“ von Claudio Katz und „Dringende Erklärung für Nicaragua“
Nachfolgend die Übersetzungen von zwei Texten zu Nicaragua.
Der erste stammt von dem argentinischen marxistischen Ökonomen Claudio Katz, der zweite ist eine Stellungsnahme linker Aktivisten zu den Vorgängen in Nicaragua.
Nicaragua schmerzt
Von Claudio Katz
Über Nicaragua zu schreiben, ist ebenso schmerzhaft und traurig wie unabdingbar. Die Erinnerungen an die sandinistische Revolution sind in der Generation, die diese heroische Tat miterlebt hat, noch lebendig. Zu schweigen wäre eine Beleidigung derjenigen, die an dem denkwürdigen Aufstand gegen Somoza beteiligt waren.
Die Tatsachen der letzten Monate lassen wenig Zweifel. Einer Abfolge von sozialen Protesten ist mit brutaler Repression begegnet worden. Es gibt 350 Tote auf einer einzigen Seite, die auf das Vorgehen von Polizeikräften und Paramilitärs zurückgehen. Es hat in allen Fällen Schüsse auf unbewaffnete
Demonstrierende gegeben, die so gut sie konnten darauf das antworteten, dass sie gejagt wurden, oder wegzukommen suchten.
Informationen von zahlreichen Quellen stimmen in dieser Beschreibung überein. Es wurde eine zunehmende Zahl von Schüssen aus dem Hinterhalt registriert, was mit einigen Toten begann und auf 60 Ermordete Ende April anstieg. Diese Tragödie ist durch den Beginn von Gesprächen nicht unterbrochen worden. Im Gegenteil, der Dialog ist von 225 weiteren Verbrechen gekrönt worden.
Für dieses wilde Wüten gibt es keinerlei Rechtfertigung. Die offiziellen Stellen (und die sie unterstützenden Stimmen) legen keinen einzigen Beweis für die „terroristische Aktivität“ vor, mit denen sie die Opfer abstempeln. Auch gibt es keine nennenswerten Verluste auf Seiten des Regierungslagers
und es ist nicht registriert worden, ob bzw. wie oft seitens der Oppositionellen Feuerwaffen verwendet wurden.
Diese Ereignisse sind nicht nur von den Verwandten der Toten verurteilt worden. Eine Unmenge und ein breites Spektrum von Journalist*innen bestätigen diese Ereignisse. Aber am wichtigsten sind die autorisierten Stimmen von ehemaligen Comandantes und Leitungsmitgliedern des Sandinismus,
die die Vorfälle direkt an den Orten des Geschehens überprüft haben. Ihre Anklagen sind von höchste Glaubwürdigkeit und stimmen mit der Sichtweise von langjährigen ausländischen Weggefährt*innen der Revolution überein. Diese Stellungnahmen sind wegen ihrer großen Kenntnisse der widerstreitenden Akteur*innen von Bedeutung.
Das Blutbad, das die Regierung Ortega angerichtet hat, ähnelt der Reaktion jedes x-beliebigen rechten Präsidenten. Das ist die typische Gewalt eines Staates gegen die Unzufriedenen gewesen. In Anbetracht von diesem grässlichen Verhalten hat eine Bewegung, die von einfachen Forderungen ausgegangen ist, einen Charakter demokratischen Widerstands gegen die Reform angenommen. Die ursprüngliche Forderung gegen die Reform der sozialen Sicherung hat in Anbetracht des Dantesken
Szenarios mit hunderten von Toten wegen der Schießereien der Gendarmen an Bedeutung verloren.
Die Stimme gegen dieses Verbrechen und ein sofortiges Ende der Repression sowie die Einleitung von Verfahren gegen die Schuldigen ist im Zusammenhang mit dem, was geschehen ist, zu fordern, die erste Pflicht.
Rückentwicklung ohne Möglichkeit einer Umkehr Die Proteste gegen die Erhöhung der Beiträge zur Sozialversicherung haben in der Bevölkerung ein großes Echo gefunden. Diese Sympathie war ein Anzeichen für das Bestehen von großer Unzufriedenheit
in der breiten Schichten. Es gibt eine Verärgerung über die offizielle Politik, die einen Bruch mit der revolutionären Vergangenheit der Regierung bedeutet.
Der „orteguismo“ (Ortegismus) hat nicht die mindeste Verwandtschaft mit seinem sandinistischen Ursprung bewahrt. Er ist strategische Allianzen mit dem Unternehmertum eingegangen, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verlangte Maßnahmen umgesetzt und nach dem Verbot der Abtreibung [2006] die Verbindungen zur [katholischen] Kirche verstärkt. Er hat die privilegierte Bürokratie der Geschäfte sich festigen lassen, was mit der Aneignung von öffentlichen Gütern eingesetzt hat.
Unter Leitung Ortega herrscht ein Klientelsystem, gestützt auf Wahlmaschinerien. Das Fortbestehen der alten sandinistischen Symbolik verdeckt den substantiellen Wandel, eine Reproduktion der Rückentwicklung, wie andere progressive Prozesse sie auch erlitten haben.
Lange bevor sie sich in ein schlichtes Netz von Mafiosi umgewandelt hatte, hat die mexikanische PRI [Partido Revolucionario Institucional] ihr Erbe aus agrarischen Transformationen und nationalistischen Traditionen beerdigt. Das gleiche geschah im Fall der bolivianischen MNR [Movimiento Nacionalista Revolucionario], die viele Jahre lang, im Gegensatz zu ihrer Entstehungszeit, als reaktionäre Partei agiert hat. Weitere Beispiele für politische Regression, die nun von Ortega reproduziert werden, gibt es bei anderen lateinamerikanischen Parteien, die sich von ihren früheren sozialistischen oder antiimperialistischen Zielen vollständig gelöst haben.
Die Repression schließt jedoch eine noch weniger rückgängig zu machende Kehrtwende ein. Eine verbürgerlichte Formation transformiert sich in eine Organisation, die der Linken antagonistisch gegenüber tritt. Wenn der Polizeiapparat aus dem Hinterhalt mordet, wird ein definitiver Bruch mit einer
progressiven Perspektive vollzogen. Diese unumkehrbare Regression hat in den letzten Monaten stattgefunden.
Die substantiellen Unterschiede zu Venezuela haben ihre Wurzeln nicht nur in dem Fortdauern des bolivarianischen Prozesses, der in einem Rahmen von noch nicht dagewesener Feindschaft zur Rechten in Konfrontation steht und die Souveränität verteidigt. In der unendlichen Abfolge von „guarimbas“ [1] hat der Chavismus gegen Putschversuche, paramilitärische Vorstöße und Provokationen von Gruppen, die von der CIA ausgebildet worden sind, angekämpft. Er hat viele Ungerechtigkeiten begangen und ist mit einer Reihe von Kämpfer*innen aus dem Volk übel umgesprungen, aber die zentrale Auseinandersetzung ist die mit der vom Imperialismus betriebenen und finanzierten Destabilisierung gewesen.
Was in Nicaragua geschah, ist etwas völlig anderes. Die Proteste waren nicht von Washington aus ferngesteuert. Sie sind von unten entstanden, gegen die vom IWF empfohlenen Reformen, und sie verbanden sich später spontan untereinander, um die Rechte zu verteidigen, die verletzt worden waren.
Ebenso wenig haben die Hauptfiguren der Konservativen, die zahllose Pakte mit der Regierung eingegangen sind, die Revolte vorangetrieben. Zu den Demonstrationen kam ein heterogenes Konglomerat von Unzufriedenen zusammen, die unter der Leitung der Kirche und der Studentenschaft agierten. Die
unterschiedlichen kirchlichen Schattierungen befolgten nicht ein und dasselbe Textbuch, und die Studierenden gruppierten sich in unterschiedliche interne Strömungen mit linken und rechten Führungspersonen.
Diese Bewegung mit einer anfänglich geringen Politisierung begann klarere Haltungen zur repressiven Hetzjagd einzunehmen. Ihre Positionierung wurde in Anbetracht des Scheiterns der Dialogrunden, die die Regierung verbal akzeptiert, in der Praxis aber boykottiert hat, deutlicher.
Das ganze Bild in den Blick nehmen
Unter all den Stellungnahmen, die in den letzten Wochen verbreiteten worden sind, geht die Herangehensweise eines anerkannten und führenden chilenischen Revolutionärs2 verdienstvollerweise auf Fragen ein, die anderswo nicht angesprochen werden.
Dieser Protest betont die Legitimität der Proteste, prangert Ortegas Verrat an und stellt das komplizenhafte Schweigen vieler progressiver Strömungen zu der Repression in Frage. Er warnt jedoch auch vor dem Ausnutzen der Proteste durch die Rechte und weist darauf hin, dass die Vereinigten Staaten den Konflikt ausnutzen werden, um die Regierung zu unterminieren. Er stellt ferner fest, dass ein Teil der Bevölkerung weiterhin den „oficialismo“ [die offizielle Partei, die staatlichen Stellen] unterstützt, und er tritt für eine friedliche Lösung ein, damit nicht die örtliche Bourgeoise und deren imperiale Auftraggeber die Nutznießer eines eventuellen Sturzes des Offizialismus würden.[3]
Diese Sichtweise ist eine sehr gute Synthese der moralischen Abscheu wegen der Schlächtereien und der Anerkennung des Umstands, dass im Lande eine komplexe Situation entstanden ist. Obgleich Ortega ohne Skrupel mit allen Exponent*innen der Reaktion paktiert, sind die USA darauf aus, ihn davonzujagen. Sie tolerieren die Autonomie nicht, die Nicaragua in seiner Außenpolitik bewahrt hat. Dieses Land ist nicht nur Teil von ALBA und hat enge Verbindungen zur venezolanischen Regierung.
Es hat auch die Absicht, mit chinesischer Finanzierung einen interozeanischen Kanal zu bauen ‒ und dies in der heißesten Region des „Hinterhofs“ der Großmacht Nummer 1.
Wie sich während des Staatsstreichs gegen [Präsident Manuel] Zelaya in Honduras [im Juni 2009] (und vor kurzem in Guatemala) gezeigt hat, behandeln die Vereinigten Staaten die kleinen mittelamerikanischen Länder als Kolonien zweiten Rangs. Sie akzeptieren nicht den mindesten Ungehorsam dieser Nationen. Aus diesem Grunde sind schon sämtliche Fangarme ausgefahren worden, um die führenden Kreise des Protests zu kooptieren, um sie im Fall einer künftigen Einsetzung einer Marionette des Imperiums, die an die Stelle von Ortega treten würde, zu verwenden. Das Treffen von verschiedenen Studentenführer*innen mit anticastristischen ultrarechten Kongressabgeordneten (und
Treffen gleicher Art in El Salvador) machen die sichtbarsten Episoden der neuen Operation aus, die von Trump versucht wird.
Die Vorbereitungen für solch eine Aggression nicht zur Kenntnis zu nehmen, wäre unzulässig Blauäugigkeit. Ortega, der das Volk brutal attackiert, wird vom State Department als ein Feind betrachtet,
den es unter die Erde zu bringen gilt. Solche Widersprüche hat es in der Geschichte sehr häufig gegeben, die Linke muss sie gründlich einschätzen, wenn es darum geht, Position zu beziehen. Es ist ausgesprochen wichtig, nicht bei den Kampagnen der Organisation Amerikanischer Staaten (engl.: OAS, span.: OEA) und dem Geschrei von Vargas Llosa mitzumachen, der das Comando Sur [der US Army] einschalten will.
Gefahren und Definitionen
Die Feststellung, dass ein Teil der Bevölkerung weiter den Sandinismus unterstützt, stimmt mit den Ergebnissen der letzten Wahl überein. Doch geht Cabieses nicht nur von dieser Tatsache aus, wenn er [2] sich für eine friedliche Lösung ausspricht. Verhandlungen würden die Transformation der gegenwärtigen
Revolte in eine größere Konfrontation mit schrecklichen Opferzahlen und verheerenden Folgen auf geopolitischer und nationaler Ebene vermeiden.
Was an zwei Orten im Nahen Osten geschehen ist, ist Anlass, um derartige Konsequenzen zu befürchten.
Sowohl in Libyen als auch in Syrien herrschten Regierungen, die ursprünglich progressiv waren und sich soweit zurückentwickelten, dass sie Repression gegen Aktivist*innen und gegen die Bevölkerung anwandten. Gaddafi ließ Palästinenser ins Gefängnis stecken und Assad ließ ziellos auf die Bevölkerung schießen. In beiden Fällen führten die Funken einer Ausdehnung des arabischen
Frühlings schließlich zu enormen Tragödien. Der libysche Staat ist inmitten von Gier und Streitigkeiten unter rivalisierenden Clans praktisch verschwunden. In Syrien passierte noch Dramatischeres, dort wurden die Proteste erst von den Dschihadisten kontrolliert, dann erlitt das Land das schlimmste humanitäre Desaster der letzten Jahrzehnte.
Die historischen Realitäten und die politische Szenerie im Nahen Osten und in Mittelamerika sind sehr unterschiedlich. Doch handelt der Imperialismus in beiden Regionen mit denselben Herrschaftsabsichten.
Ohne irgendeine Rücksichtnahme zerstört er Gesellschaften und Länder. Hätten sie die Partie in Venezuela gewonnen, wäre dieses ein Friedhof ähnlich wie der Irak, das Erdöl befände sich in den Händen der großen US-amerikanischen Konzerne.
Aus diesen Gründen gilt es zu keinem Moment zu vergessen, wer der Hauptfeind ist. Eine friedliche Lösung in Nicaragua ist der beste Weg, um das gefährliche Ausnützen des Konflikts durch das
Imperium zu vermeiden. Der Mechanismus für solch einen Ausweg ist in der Forderung nach Dialog stark präsent gewesen, das Aushandeln von vorgezogenen Wahlen. Diese Forderung hebt sich von der Gleichsetzung der Regierung mit einer Diktatur und dem Verlangen nach ihrem Sturz ab.
Anscheinend hat die Spannung in den letzten Wochen nachgelassen, allerdings nicht wegen Fortschritten bei den Verhandlungen, sondern wegen verschärfter Repression. Ortega hat sich durch Schwingen der Peitsche eine Atempause verschafft. Doch hat sein Verhalten eine Kluft im Verhältnis zu der rebellierenden Jugend geschaffen, die nicht wieder zu beseitigen sein wird. Seine Trennung von der Linken ist definitiv. Die revolutionäre Tradition des Sandinismus wird wieder zu Tage treten, doch auf einem Weg, der dem Weg des Ortegismus entgegengesetzt ist.
26.7.2018
Aus dem Castellano (Spanischen) übersetzt von Wilfried
Zum Author:
Claudio Katz lebt in Buenos Aires und ist Wirtschaftswissenschaftler, Mitarbeiter des Consejo Nacional de Investigaciones Científicas y Técnicas (CONICET), Professor an der Universidad de Buenos Aires (UBA) und Mitglied des Kollektivs Economistas de Izquierda (EDI). Er hat die Website www.lahaine.org/katz.
Vor kurzem hat er zusammen mit Eduardo Lucita, ebenfalls Mitglied der EDI, die Bildung einer Koordination von Wirtschaftswissenschaftler*innen gegen den IWF vorgeschlagen.
Siehe http://www.resumenlatinoamericano.org/2018/07/31/argentina-por-una-coordinadora-de-economistascontra-
el-fmi/ oder http://www.cadtm.org/Proponen-formar-una-Coordinadora-de-economistas-contra-el-FMI-16463.
Fußnoten:
[1] In Venezuela finden „guarimbas“ seit mehreren Jahren statt ‒ Straßenblockaden mit brennenden Reifen und Steinwürfen gegen anrückende Polizei. Sowohl Anhänger*innen der Regierung (Chavistas) als auch der Opposition können „guarimberos“ sein; hauptsächlich sind es jedoch Anhänger*innen der (extremen) Rechten. Siehe Clifton Ross, „The Venezuelan Guarimba“, 17.4.2013, https://www.counterpunch.org/2013/04/17/the-venezuelan-guarimba/. (Anm. d. Übers.).
[2] Gemeint ist Manuel Cabieses Donoso, der Herausgeber der renommierten Zeitschrift politisch-kulturellen Punto Final war. Diese Zeitschrift erschien zuerst von 1965 bis 1973 in Santiago de Chile und war mit dem MIR verbunden, leitender Redakteur war Manuel Cabieses Donoso. Bei der neuen Folge, die von 1981 bis 1986 in Mexiko, seit 1989 wieder zweiwöchentlich in Chile erschien und im März 2018, übernahm er die Funktion eines
„director“. (Anm. d. Übers.)
[3] Manuel Cabieses Donoso, „La lección de Nicaragua“, 17. Juli 2018, https://www.nodal.am/2018/07/la-leccionde-
nicaragua-por-manuel-cabieses-donoso/.
Original: „Nicaragua duele“, https://katz.lahaine.org/nicaragua-duele/
Übersetzung ins Englische: „Nicaragua in Pain“, https://katz.lahaine.org/nicaragua-in-pain/, auch unter: http://newpol.org/content/nicaragua-pain (27. Juli 2018),
http://internationalviewpoint.org/spip.php?article5628
Übersetzung ins Französische von Lucile Daumas: „Le Nicaragua fait mail“ (26. Juli 2018), http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article45482
Stellungnahme, die von zahlreichen Aktivist*innen und Intellektuellen aus verschiedenen lateinamerikanischen, europäischen und anderen Ländern unterzeichnet wurde.
Dringende Erklärung für Nicaragua ‒ Solidarität mit dem Widerstand
Als Intellektuelle, soziale Aktivist*innen und Akademiker*innen möchten wir angesichts der sehr ernsten Situation, die Nicaragua durchmacht und durch staatliche Gewalt und Verletzungen der Menschenrechte gekennzeichnet ist, unseren entschiedenen Protest zum Ausdruck bringen. Verantwortlich ist das gegenwärtige Regime Ortega-Murillo, die Gewalt von oben hat in den letzten drei Monaten zu etwa 300 Toten geführt.
Empörung, Schmerz, ein Gefühl historischer Frustration verdoppeln sich, wenn ein derartiges politisches Fiasko von politischen Führungspersonen und Regierungen ausgeht, die sich links nennen. Was könnte mehr schmerzen als die Ironie einer Führungspersönlichkeit, die sich als Revolutionär nennt und den verbrecherischen Praktiken jenes Diktators [Anastasio Somoza Debayle] nacheifert, gegen den er sich erhoben hat! Und die Empörung wird noch intensiver, wenn dieses Panorama staatlicher
Gewalt durch das komplizenhafte Schweigen von politischen Führungspersonen und bekannten Intellektuellen vervollständigt wird, die sich selber als links verstehen und/oder so genannt werden. Das stillschweigende Einverständnis eines gewissen intellektuellen Establishments ‒ einer offizialistischen Linken [Regierungslinken], die sich gewöhnlich die exklusive Vertretung der „Linken“ anmaßt ‒ hat sich unter dem Einfluss der Regierungsmacht in ein Surrogat für ausgeprägten Zynismus verwandelt.
Diese ebenso schmerzliche wie nicht hinnehmbare Situation anzuprangern, die Stimme gegen die Angriffe auf die elementarsten Freiheiten und Rechte, die die gegenwärtige nicaraguanische Regierung verübt, zu erheben, ist nicht alleine eine Pflicht humanitärer Solidarität. Das ist auch ein kollektiver Akt und Aufruf zur Verteidigung des revolutionären Gedächtnisses, um zu versuchen, die Vollendung der politischen Degeneration, die da vor sich geht, zu verhindern.
Es gibt kein schlimmeres Verbrechen als politische Enttäuschung der Hoffnung der Völker.
Es gibt kein schlimmeres Ausplündern als dasjenige, das auf die Veruntreuung der rebellischen Energien für eine gerechte Welt abzielt.
Es gibt keinen schlimmeren Imperialismus als den internen Kolonialismus, der sich in unterdrückerische Gewalt, verkleidet mit antiimperialer Rhetorik, umwandelt.
All dies geschieht in Nicaragua. Das Land, das Ende der siebziger Jahre ein fruchtbares Symbol für emanzipatorische Hoffnung war, hat sich in ein weiteres Terrain des Autoritarismus verkehrt.
Die beschädigte Erinnerung an eine der edelsten und hoffnungstragenden Revolutionen Unseres Amerikas,
wie es Sandino war und ist, die Erinnerung an antikapitalistische Kämpfe eines leidenden, doch mutigen Volkes, wird jetzt mit Füßen getreten, um die gewöhnliche Gewalt zu verbergen bzw. dies zu
versuchen, wie sie typisch ist für ein weiteres diktatorisches Regime, von denen wir in unserer Geschichte reichlich und immer wieder welche haben. Der revolutionäre Anführer von einst, geehrt
durch das Vertrauen seines Volks, jetzt umgewandelt in einen Diktator, blind geworden durch die Macht und mit den Händen voller Blut von jungen Menschen ‒ das ist das so gewaltsam bittere Anblick von Nicaragua, das uns lieb ist.
Wir erheben unsere Stimme, um die Diktatur öffentlich zu verurteilen, in die die Ortega-Murillo-Regierung sich verwandelt hat. Wir bekunden unsere Solidarität mit dem Volk und der Jugend, die sich heute einmal mehr zum Widerstand erhoben haben. Wir tun dies, um ihre Forderungen nach Dialog und Frieden zu unterstützen und zu begleiten, nach der Beendigung einer illegitimen und kriminellen Regierung, die heute die sandinistische Erinnerung usurpiert. Wir tun dies in der Überzeugung, dass es nicht nur um die „Rettung der Ehre“ der Vergangenheit geht, sondern vor allem darum, die emanzipatorischen Keime der Zukunft, die heute gefährdet sind, zu retten und für sie zu sorgen.
17. Juli 2018
Weitere Unterschriften sind an folgende Adresse zu schicken:
declaracionurgentepornicaragua@gmail.com
Unter den Erstunterzeichner*innen:
Alberto Acosta (Wirtschaftswissenschaftler, Ecuador)
Raúl Zibechi (Essayist und Autor, Uruguay)
Hugo Blanco (Aktivist, Herausgeber der Zeitung Lucha indígena, Peru)
Joan Martínez Alier (Leiter der Zeitschrift Ecología política, Spanischer Staat)
Pierre Salama (Wirtschaftswissenschaftler, Frankreich)
Edgardo Lander (Soziologe, Venezuela)
Boaventura de Sousa Santos (Rechtsanwalt, Soziologe, Portugal)
Jaime Pastor (Herausgeber der Zeitschrift Viento Sur, Spanischer Staat)
Ricardo Napurí (Sozialist, Argentinien)
Nora Ciapponi (Sozialistin, Argentinien)
Aldo Casas (Aktivist, Zeitschrift Herramienta, Argentinien)
Für eine vollständige Liste siehe:
http://espacioautonomodepensamientocritico.blogspot.com/.
Aus dem Spanischen übersetzt
Vorspann von „Socialist Worker“ (Chicago)
In Nicaragua ist aus einer Erhebung, die mit Forderungen von Studierenden nach einem Stopp der Versuche der Regierung, die Sozialversicherung zu kürzen, eine Revolte der Bevölkerung geworden, die den Rücktritt von Präsident Daniel Ortega und Vizepräsidentin Rosario Murillo verlangte, nachdem Regierungskräfte und Paramilitärs eine Terrorkampagne gegen Protestierende entfesselt hatten.
Eine Reihe von Akademiker*innen und Aktivist*innen von sozialen Bewegungen aus aller Welt haben eine Erklärung gegen die Brutalität des Regimes herausgegeben, die zuerst auf Spanisch auf „Correspondencia de Prensa“ und auf Französisch auf „à l’encontre“ veröffentlicht worden ist.
Erklärung auf Spanisch: „Nicaragua ‒ Declaración urgente por Nicaragua“ (19. Juli 2018),
https://correspondenciadeprensa.com/2018/07/19/nicaragua-declaracion-urgente-por-nicaragua-firmas/
Übersetzung ins Englische: „Statement: Solidarity with Nicaragua’s Resistance“, socialistworker.org. Publication of the International
Socialist Organization [USA], 26. Juli 2018, http://socialistworker.org/2018/07/26/solidarity-with-nicaraguasresistance
Übersetzung ins Französische: „Déclaration urgente pour le Nicaragua“, à l’encontre [Lausanne], 18. Juli 2018,
https://alencontre.org/ameriques/amelat/nicaragua/declaration-urgente-pour-le-nicaragua.html
Auch Herr Katz ist zu beschränkt in seiner Weltschau und seinem Verständnis:
Was, Herr Katz, soll das bedeuten: „Die Feststellung, dass ein Teil der Bevölkerung weiter den Sandinismus unterstützt, stimmt mit den Ergebnissen der letzten Wahl überein.“ (Weil sie „den“ Sandinismus unterstützen, haben sie nicht Ortega gewählt, oder was?) Ortega hat ungefähr soviel Leute hinter sich wie die AfD in Deutschland. Nur sind die der AfD meist überzeugte, bewusste Rechte und Rassisten, während Ortegas Prozente meist Arschkriecher und korrupte Opportunisten sind.
Die Katzsche Imperialismusanalyse lässt sehr zu wünschen übrig.
ALBA ist eine Korruptionsmaschine, fördert den Extraktivismus und trug in Nicaragua nicht ein bisschen zu ENTWICKLUNG bei oder zu Armutsreduzierung oder zu Qualitätserziehung oder gar zu Umweltschutz, weil diese vieri dem Regime völlig egal sind, außer dort, wo es die Machtabsicherung befördert.
Maduro, Ortega, Murillo, Morales, Correa und der Neue in Cuba sind keine Linken. Ghaddafi und Assad auch nicht. Und was soll denn bitteschön „progressiv“ bedeuten?
Trackback by Carlo 19. August 2018 16:49