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[AIK] Alles oder nichts – Weichenstellungen für die syrischen Kurden vor Raqqa

Bloged in Allgemein by friedi Montag Juni 12, 2017

Benutzen oder benutzt werden?
von Wilhelm Langthaler

Die Kurden sind mit dutzenden Millionen die größte Volksgruppe der Welt
mit nationalen Ambitionen. Ein Jahrhundert lang wurden ihnen von den
Groß- und Regionalmächten mittels blutiger Repression nicht nur ein
Nationalstaat, sondern auch substantielle Minderheitenrechte verweigert.
Der US-Krieg gegen den Irak hat das Bild jedoch geändert – allerdings
mit der Folge des anhaltenden Bürgerkriegs, der dauerhaften Präsenz
fremder Truppen sowie blockierter Entwicklung und sozialen Zerfalls.
Kündigt sich in Syrien Ähnliches an, sowohl im Allgemeinen und
insbesondere was die Kurden betrifft?

Kurden im Irak – Präzedenz?

Solange die Nachkriegsordnung halbwegs stabil war, gab es für die
irakischen Kurden wenig Spielraum, wenn auch noch mehr als in den
anderen Ländern. Seit dem US-geführten Krieg gegen den Irak 1991
betrachtet Washington die irakischen Kurden jedoch als Bündnispartner,
was ihnen die Erlangung eines Autonomiestatus ermöglichte. Mit dem
US-Krieg 2003 kam es dann zu einer De-facto-Selbständigkeit
einschließlich der Verfügung über die Erdölressourcen. Nur die
De-Jure-Unabhängigkeit wollten die USA nie einräumen – aus Rücksicht auf
ihre Verbündeten, deren Grenzen damit auch indirekt in Frage gestellt
werden würden. Das gilt vor allem für die Türkei, die auch ein Mitglied
der Nato ist.

Auch Israel unterstützt die irakischen Kurden, weil sie ein Stachel im
Fleisch des Arabismus sind, den der Zionismus lange Zeit als wichtigsten
Gegner betrachtete, zumindest bis zum Sturz Saddams.

Der gewaltsame regime change sowie die US-Besatzung hat die
Kräfteverhältnisse im Irak und in der gesamten Region stark verändert.
Die logische Folge ist die Ausdehnung und Aufwertung des
politisch-schiitischen Iran, dem Erzfeind des Baathismus. Das dual
containment, die doppelte Eindämmung, die strategische Grundidee
Washingtons hinter der Befeuerung des Iran-Irak-Kriegs, verlor ihre
Grundlage. Der schiitische Islamismus übernahm die Macht, der im Irak
als Folge des Kriegs gegen den Khomeini-Iran als Opposition aufgestiegen
war. Bagdad gelangte in den Einflussbereich Teherans. Der Widerstand
gegen die US-Besatzung wiederum nahm eine sunnitisch-islamische Form an,
auch weil für den schiitischen Islamismus die USA das kleinere Übel
darstellten. In einem gewissen Sinn war es ihnen gelungen, den
amerikanischen imperialistischen Tiger für ihre Zwecke zu reiten.
Mittelfristige Folge davon ist jedoch die sunnitisch-arabische
Rebellion, die auf baathistischen Kulturboden stattfindet und die
letztlich den Islamischen Staat hervorbrachte. (Eine Bilanz des
irakischen Widerstands und seiner konfessionellen Spaltung 2007.)

Für die USA sind beide Lager keine verlässlichen Stützen. Umso mehr
wertet das die irakischen Kurden auf, die mehr als 20% der Bevölkerung
des Zweistromlandes stellen. Zudem kommt eine qualitative Veränderung
der Beziehungen zur Türkei. Unter den Kemalisten waren alle Kurden
Feinde. Für die AKP Erdogans ist das anders. Die Feindschaft zur
dominanten PKK, die sie nicht unter Kontrolle bringen können, bleibt
aufrecht. Doch gleichzeitig bemüht sich Ankara um Einbindung der Kurden
auf einer anderen Grundlage. Dazu versuchte er eine alternative Führung
zu schaffen, für die das Regime von Erbil Pate spielen sollte.

Barzani, der historische Clan-Führer der nördlichen Kurdenregion fühlt
sich heute so stark, dass er sogar an eine Unabhängigkeitserklärung
denkt. Zum wiederholten Mal hat er ein Referendum angekündigt. Seine
Partner mögen darüber nicht glücklich sein und ihn möglicherweise doch
noch davon abhalten, doch als Drohung mit Hebelwirkung dient es ihm allemal.

Die Kurden in der Türkei

Die Kurden in der Türkei stellen nicht nur den größten Anteil an den
Kurden überhaupt. Nirgendwo wurden sie so hart und systematisch
unterdrückt wie in der kemalistischen Türkei, wo ihnen sogar die schiere
Existenz abgesprochen wurde („Bergtürken“). Gegen den von der Nato
orchestrierten Putsch 1980 entstand eine linke Guerillabewegung, die vor
allem unter den Kurden Fuß fasste. Die Aufstandsbewegung geriet zur
nationalen Geburt. Die Führung der Nationalbewegung wurde dabei von der
PKK erobert, die bis heute die Hegemonie ausübt.

Während der kemalistische Staat nur die Sprache der blutigen Repression
kannte, öffnete die Erdogan-AKP ein historisches Fenster, insofern als
sie den türkischen Nationalismus herunterdämpfte und panislamische
Elemente mit ins Spiel brachte, die als Brücke dienen können. Im
Friedensprozess lotete Erdogan die Möglichkeiten aus. Doch es zeigte
sich, dass es keinen Weg an der PKK vorbei gab. Starker Tobak für den
türkischen Nationalismus, doch von beiden Seiten schien sich
Bereitschaft zum Kompromiss abzuzeichnen.

Doch die Beteiligung der AKP am syrischen Bürgerkrieg gab den Anstoß zu
Verwerfungen ihres Bündnissystems in der Türkei selbst. Einerseits
verlor die AKP mit der Intensivierung des islamischen Kulturkampfes die
liberalen Mittelschichten, andererseits ging ihr Bündnis mit den
staatlichen Kadern der Gülen-Bewegung in die Brüche, vermutlich auch
wegen letzterer antikurdischer Haltung. Hinzu kamen dann die
militärischen Erfolge der syrischen PYD, der Bruderpartei der PKK, just
an der türkischen Südgrenze – und das noch mit amerikanischer Hilfe –,
während Erdogans neoosmanischen Träume mit der russischen
Militärintervention zerstoben. 2011 hatte Erdogan noch als Messias für
die Region gegolten. 2015 stand er intern wie extern vor einem
Trümmerhaufen. Es wurden der Fronten zu viele, irgendwo musste er
einlenken. So schlug er intern die Tür zu den PKK-Kurden zu, um
gegenüber den kemalistischen Teilen des Staatsapparates zu entspannen;
extern ließ er die Jihadis und Aleppo fallen, um gegenüber den Russen zu
entspannen. (Wir haben diese historischen Passagen vielfach analysiert.)

Exkurs: Erdogan hatte ein politisches Wunder vollbracht, nämlich den
kemalistischen Staatsapparat friedlich zurückzudrängen. Das gelang
mittels einer Zangenbewegung. Einerseits mit der liberalen
Mittelschicht, die eine Demokratisierung gegen die Militärs wollte.
Andererseits mittels der Gülenisten, die die Kemalisten nicht nur
infiltriert hatten, sondern Teil ihrer geworden waren und sie somit von
einem Putsch gegen Erdogan abhalten konnten. Mit beiden überwarf sich
Erdogan. Er bedurfte der Duldung anderer Kräfte, um sich halten zu
können. Tatsächlich führen die sich verschärfenden Gegensätze dazu, dass
Erdogan sich nach dem gescheiterten Putsch als Bonaparte emporhebt,
trotzdem die Hegemonie seines Blocks erodiert. (Zum Präsidialreferendum
und Bonapartismus.)

Die nationalkurdische Bewegung in Form der HDP beging einen historischen
Fehler, sich reziprok zu verhalten. Als sie im Juni 2015 ihren
Wahlerfolg errang und die absolute Mehrheit der AKP brach, hätte es sich
angeboten, den Friedensprozess zum Abschluss zu bringen.
Regierungsunterstützung gegen Autonomie! Egal ob Erdogan angenommen
hätte oder nicht, es wäre ein politischer Punkt für die HDP gewesen.
Stattdessen machte sie der CHP Avancen, der Repräsentantin des alten
Regimes.

Da ist einerseits das fehlende Verständnis dafür, dass die AKP die
weiche Seite des türkischen Staates darstellt – das teilen die
Nationalkurden mit der türkischen Linken. Denn wenn der türkische
Nationalismus zu knacken sein sollte, dann über die Dämpfung mittels
Islam, der bis in die Eliten wirkt. Auf der anderen Seite wird da wohl
bei HDP und PKK der Erfolgsrausch der Schlacht von Kobane gewesen sein,
der sie dazu bewog den Fehdehandschuh auch im Südosten der Türkei
aufzunehmen. Dieses kurze Aufflackern des Bürgerkriegs 2015-16 in der
Türkei führte zu einer verheerenden militärischen Niederlage der Kurden,
die nicht nötig gewesen wäre.

Der syrische Bürgerkrieg…

Der syrische Bürgerkrieg ist ein außerordentliches historisches
Kräftemessen, das nicht nur die Regional-und Globalmächte mit
einbezieht, sondern die verschiedenen politischen Projekte in der
arabischen Welt auf die Probe stellt. Es stehen sich gegenüber:

Erstens: Die postkolonialen Regime im arabischen Zentralraum, die ihre
Wurzeln im arabischen Nationalismus haben, sich aber mit der regionalen
und globalen Ordnung arrangiert haben oder arrangieren mussten. Das
neuerliche Auftreten Russlands in der Region gibt ihnen etwas mehr
Spielraum, ändert ihren Charakter als Instrument der Eliten jedoch nicht.

Zweitens: Die Golf-Regime um Saudi-Arabien, die direkt mit den USA
verbunden sind, die aber in der einen oder anderen Form auf den
sunnitischen Islam setzen, um in der Region einen Hebel haben. Sie sehen
die wachsende Macht des Iran als ihr Hauptproblem an.

Drittens: Der sunnitische Politische Islam, der nach dem Ende der UdSSR
sich schrittweise zur größten Herausforderung für die lokalen Regime
entwickelte. Er ist ein klassenübergreifendes und sehr breit gefächertes
Phänomen, das von einem antiimperialistischen Aspekt, über einen
Quietismus und einen Konfessionalismus bis hin zu den Interessen der
sozialen Eliten und des Golfes vieles enthält und repräsentieren kann.
Es ist ein häufiger, aber umso schwerer Fehler eine gerade Linie von
diesen sehr diversen Kräften bis zu den sunnitisch-politischen Regimes
und noch mehr zu den USA zu ziehen. (Der gegenwärtige Konflikt zwischen
Riad und Doha zeigt, welche Vermittlungsebenen es da gibt. Die saudische
Unterstützung für den ägyptischen Militärputsch gegen die Muslimbrüder
ist ein weiterer Beweis dafür, welche Angst die Monarchien auch vor
islamisch gefärbter Massenmobilisierung haben.)

Viertes: Der Iran, der zwar keine arabische Macht ist, aber dennoch über
erheblichen und wachsenden Einfluss verfügt, welcher meist schiitisch
konfessionellen Charakter trägt. Ausgehend vom Widerstand der
libanesischen Hisbollah gegen Israel bezeichnet sich die
Mullah-Regierung gerne als „Achse des Widerstands“, doch überwiegt vor
allem im Irak und Syrien der konfessionelle Aspekt und die persischen
Interessen als Regionalmacht.

Fünftens: Die Türkei, die im Gegensatz zum Iran kaum über loyale
arabische Anhängerschaft verfügt, aber dennoch über die
sunnitisch-konfessionelle Achse und die Unterstützung für gewisse
Strömungen des Politischen Islam Einfluss ausübt. Die neoosmanischen
Ambitionen stoßen hingegen auf keine arabische Gegenliebe. Zu sehr ist
der Islamismus auf dem Boden des Arabismus gewachsen, hat in seinen
Teichen gefischt, ja ist bisweilen sein Surrogat oder Zerfallsprodukt.
Das ist in der Türkei selbst nicht viel anders, wo der gegenwärtige
Erdoganismus eine Mischung aus türkischem Nationalismus und Sunnitismus
darstellt.

Hier darf ein antiimperialistischen Befreiungs- und Entwicklungsprojekt
nicht fehlen, auch wenn es aus vielfachen Gründen nicht in die Kategorie
der Aufgezählten passt, sondern quer dazu steht. Der arabische Frühling
legte über den Stand dieses Projekts Zeugnis ab. Es gab eine
Massenmobilisierung mit elementaren demokratischen und sozialen Zielen,
doch ihre politische Kraft und Reife reichte nicht aus, um die
Fallstricke der Situation, die sich aus der Intervention des Westens im
Verein mit den genannten Spielern ergaben, zu bewältigen. Das
Emanzipationsprojekt erlitt eine historische Niederlage. Die Bruchlinien
können im syrischen Bürgerkrieg betrachtet werden.

In diesem Paroxysmus gibt es keinen Sieger – auch deswegen, weil der
US-Imperialismus als Ordnungsmacht entscheidend an Kraft verloren hat,
was wiederum potentiell Chancen bietet. Nicht umsonst ist es der Iran,
der in der gegenwärtigen Lage noch am besten dazustehen scheint, der
gleichzeitig von Washington und Tel Aviv als der staatliche Oberböse
angesehen wird. Schein deswegen, weil die aufgerissenen Gräben sehr tief
sind und die konfessionelle Spaltung und eventuell sogar Teilung keine
dauerhafte Lösung bringen kann. Selbst Jahre oder Jahrzehnte des
Bürgerkriegs würden keine homogenen Territorien hervorbringen. Denn der
konfessionellen Identität und Subjektbildung liegen auf diese Art und
Weise nicht lösbare sozioökonomische Ursachen zugrunde. Zudem greifen an
ihr noch die Interessen der Regionalmächte an. Letztlich ist die
Konfession zur Staatsbildung kaum geeignet. Sie tritt im Fieber des
Bürgerkrieges an die Oberfläche. Das Konzept der Nation (wenn auch nicht
wie vom Arabismus oder Kemalismus gedacht) hat die tieferen Wurzeln und
ist besser geeignet Gesellschaft und Staat zu organisieren, wenn
Inhomogenität demokratisch akzeptiert und durch soziale Entwicklung
gleichzeitig gedämpft wird. Gerade auch die Kurdenfrage stellt die
überragende Bedeutung der Nation ebenfalls unter Beweis.

Umgekehrt zeigt das totale Fiasko des syrischen Bürgerkriegs wie sehr
ein universelles Emanzipationsprojekt gebraucht wird, das soziale
Gerechtigkeit mit nationaler und kultureller Selbstbestimmung verbinden
kann.

… und die Rolle der Kurden

Aus dieser Situation erklärt sich, warum eine so kleine Gruppe wie die
syrischen Kurden, deren relatives und absolutes Gewicht kleiner ist als
jenes der Kurden in der Türkei und im Irak und deren Verteilung auch für
die Inanspruchnahme eines geschlossenen Territorium ungünstig ist, eine
so herausragende Rolle spielen kann. Sogar die Weltmacht USA setzen auf
diese Karte, obwohl PKK und PYD aus einer marxistischen Tradition kommen
– denn sie haben sonst niemanden, auf den sie sich verlassen könnten.

Die Schlacht um Kobane stellte den Wendepunkt dar. Der Jihadismus war an
seinem bisher höchsten Punkt angelangt. In Mosul hatte der IS die Macht
übernommen. Er dehnte seinen Einfluss auf wichtige Teile Syriens aus.
Das Damaszener Regime stand mit dem Rücken zur Wand und der Sieg der
Jihadis konnte nicht mehr ausgeschlossen werden.

In Washington war man schon längere Zeit hinsichtlich der
Kontrollierbarkeit des islamischen Aufstands skeptisch geworden.
Spätestens mit der Entscheidung Obamas im Spätsommer 2013, trotz
aufgebauter Legitimation und Ultimatum Syrien nicht anzugreifen, war
klargeworden, dass die USA den Sieg der Jihadis nicht fördern wollten.
Als im Herbst 2014 auch die PYD mit dem Rücken zur Wand stand, griffen
sie schließlich massiv in Kobane zu ihren Gunsten und gegen den IS ein
und wendeten so das Blatt.

Die Kurden hatten Kobane zu ihrem Stalingrad erklärt und alles auf diese
Karte gesetzt – und gewonnen. Der Einsatz war extrem hoch, denn ohne die
US-Unterstützung wären sie wahrscheinlich vernichtet worden. Eine
vorsichtigere und defensivere Politik, die sich nicht in die
Abhängigkeit von US-Hilfe begeben hätte, wäre nur vorstellbar gewesen,
wenn die Kurden es bei einem Guerilla-Konzept belassen und nicht nach
territorialer Kontrolle gestrebt hätten. Natürlich hätte ein sich
anbahnender Ausgleich in der Türkei selbst einen anderen Gang der
Ereignisse erlaubt. Doch standen die Zeichen im Friedensprozess
scheinbar bereits auf Sturm, ohne dass es an die interessierte
Öffentlichkeit gedrungen wäre. Zudem glaubte Erdogan zu diesem Zeitpunkt
noch an die Möglichkeit des Sieges in Syrien, unterstützte den Jihad im
Allgemeinen und ließ den IS zumindest gewähren.

Die PYD-Kräfte nutzten die Gunst der Stunde, eroberten kurdisches Gebiet
zurück und begannen bald auch auf mehrheitlich nicht kurdisches
Territorium vorzustoßen. Im Sommer 2016 nahmen sie die
100.000-Einwohner-Stadt Manbij ein, was in Ankara zum Entschluss führte,
selbst in Syrien einzumarschieren. Damit sollte ein kontinuierliches
kurdisches Territorium an der türkischen Südgrenze verhindert werden.

Die türkische Militärintervention genoss die Duldung Russlands, nachdem
die Türkei Aleppo fallengelassen und die eingekesselten Jihadis ihrem
Schicksal überlassen hatte. Ankara bot sich Washington als alternative
Führung für den Angriff auf die syrische IS-Hauptstadt Raqqa an. Doch
ihre arabischen Hilfstruppen bissen sich die Zähne an Al Bab aus, einer
arabischen Stadt mit rd. 60.000 Einwohnern, die vom IS mit äußerster
Zähigkeit verteidigt wurde. Nicht nur diese jämmerliche militärische
Leistung ließen die USA eine solche Variante ausschließen. Das syrische
Regime errichtete schließlich einen Sperrriegel gegen den weiteren
türkischen Vorstoß, worauf sich die düpierten türkischen Streitkräfte
gegen die Kurden zu richten versuchen, um Manbij in ihre Hände zu
bekommen. Doch das wussten Washington und Moskau mit ihrer direkten
militärischen Präsenz zu verhindern.

Allein sind die kurdischen Kräfte jedoch gegen den IS nicht zum Sieg
fähig. Die Einkreisungsoperation gegen Raqqa dauert nun schon Monate.
Wie schwierig der Feldzug werden könnte, zeigt die Schlacht um Mosul.
Diese zieht sich bereits ein halbes Jahr. Und dort sind irakische
Spezialtruppen mit direkter amerikanischer Unterstützung aus der Luft
sowie in der Planung und Führung eingesetzt. Die USA müssen für die
Schlacht von Raqqa ihre Militärhilfe massiv aufstocken und auch
Luftunterstützung geben. Nach unterschiedlichen Angaben von US-Medien
sollen sich bereits an die 2.000 US-Truppen auf der Seite der kurdisch
geführten SDF befinden, davon ein erheblicher Teil Eliteeinheiten und
Marines.

Hilfstruppe der USA?

Es ist eine Sache, für die Selbstverteidigung und für das eigene
Überleben Hilfe von den USA anzunehmen. Trotzdem müssen sich die
syrisch-kurdische Führung die Frage gefallen lassen, ob man es politisch
verhindern hätte können, in eine solche Abhängigkeit vom
imperialistischen Zentrum zu geraten. Einiges spricht dafür. Doch
andererseits kann man aus demokratischer Sicht die Ausnutzung der
Widersprüche bei den Gegnern nicht verurteilen. Bei gutem Willen könnte
man die Interessenüberschneidung mit Washington als taktische Koinzidenz
bezeichnen. Keine nationale Befreiungsbewegung kann Erfolge gegen die
geschlossene Ablehnung der relevanten Ordnungsmächte erzielen.

Doch es ist eine ganz andere Sache, sich zur Hilfskraft bei der
Eroberung arabischen Kerngebiets zu machen. Der IS mag usurpatorischen
Charakter haben, aber gegen eine drohende kurdische Fremdherrschaft wird
es überwältigende arabisch-islamische Ablehnung geben – ähnlich wie in
Mosul gegenüber der Herrschaft des politisch-schiitischen Bagdad. Der
kurdische Vorstoß auf Raqqa im Dienste der USA ist aus demokratischer
und antiimperialistischer ein historischer Fehler, der auch mit einem
militaristischen Denken zu tun hat. Er bringt Tendenzen ans Tageslicht,
die bereits vorher angelegt waren:

Erstens: Die Eroberung wichtigen arabischen Territoriums noch dazu unter
Federführung der USA wird zu einem arabischen Aufschrei führen, über die
politischen Demarkationen hinweg und das völlig berechtigt. Darüber
hinaus wird er dem Verständnis für die kurdischen Rechte in der
arabischen Bevölkerung nicht dienlich sein. Im Gegenteil, es wird den
antikurdischen Kräften massiven Auftrieb geben. Es ist nicht die Aufgabe
der Kurden in den arabischen Bürgerkrieg einzugreifen und gegen
Phänomene wie den IS vorzugehen, der in vermittelter Weise auf den
US-Krieg und Regimewechsel im Irak zurückgeht.

Zweitens zeigt es ein Unverständnis für die Ursachen des
politisch-sunnitischen Aufstands, dessen extremste, verzweifeltste, ja
nihilistische Form der IS ist. Es ignoriert, dass der Politische Islam
im weiteren Sinn erheblichen Einfluss in wichtigen Teilen der
sunnitischen Bevölkerung genießt. Zur politischen Schlussfolgerung, dass
man mit gewissen Teilen des Politischen Islam einen Ausgleich oder
Kompromiss braucht (auch in der syrisch-arabischen Gesellschaft), um die
extremistischen Elemente isolieren und schlagen zu können, ist die
nationalkurdische Führung nicht gekommen. (Hier gibt es eine Parallele
zu Assad.) Überhaupt stand die PYD der anfänglichen demokratischen
Volksbewegung ablehnend bis indifferent gegenüber. Das von ihr
propagierte Konzept der „demokratischen Autonomie“ ist für die
kurdischen Gebiete legitim, muss aber für die arabische Gesellschaft
schal und instrumental wirken. Es geht an dieser zentralen
Problemstellung vorbei.

Drittens spielt natürlich das kurdische Versagen in der Türkei eine
wichtige Rolle, den politischen Druck auf die AKP zu einem Ausgleich
aufrecht zu erhalten. Somit hätte die HDP nicht nur den Preis für
Erdogans türkisch-nationalistische Wende in die Höhe treiben können,
sondern eventuell auch die Tür für einen seiner 180-Grad-Schenks
offengehalten. Das hätte auch in der syrischen Arena zu besseren
Ergebnissen führen können.

Mit Arabern, Türken und Iranern – gegen die USA

Kurdische Selbstbestimmung tut den großen Nationen der Region weh.
Dennoch ist sie demokratisch legitim. Natürlich muss sie den dominanten
Nationen letztlich aufgezwungen werden, aber im Sinne eines Angebots der
friedlichen und demokratischen Kooperation, am besten sogar im Rahmen
gemeinsamer Staaten – nicht nur angesichts der historischen
Verflechtung. Doch sobald man von den USA oder Israel als Instrument für
deren Zwecke verwendet wird oder sich verwenden lässt, werden die Kurden
zum Hindernis für den historischen Befreiungskampf in aller erster Linie
der Araber, die unter dem (Neo)kolonialismus am meisten zu leiden hatten
und noch immer in unerhörter Weise unterworfen sind. Gerade die
arabische Emanzipation hat erstrangige welthistorische Bedeutung.

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Antiimperialistische Koordination
aik@antiimperialista.org
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