Reiner Stach KAFKA. Die Jahre der Erkenntnis (Rezension)
Der dritte Teil der Kafka-Biographie von Reiner Stach behandelt die lezten Lebensjahre des Prager Schriftstellers- die Zeit von 1914-1924.2 fundamentale Ereignisse warfen Kafka aus der Bahn: der Weltkriegs-Beginn und die Umstände der Lösung der Verlobung mit Felicitas Bauer. Das einsetzende Völkermorden schnitt ihn von der „Welt“ ab: zu Schriftstellerkollegen wie Musil hatte er keinen Kontakt mehr, die Beziehung zu seinem Verleger Wolff riß weitgehend ab, private Sorgen und Ängste plagten ihn: auch engste Familienmitglieder zogen in den Krieg.
Umso befremdender der Umstand, daß Kafka, der mit sozialistischen und anarchistischen Ideen nicht nur in Berührung gekommen war, sondern aktiv an linken Veranstaltungen teilnahm – demonstrativ hatte er sich die rote Blume angesteckt- KRIEGSANLEIHEN zeichnete!
Bei der Entlobung von Felicitas Bauer wurde ihm die Wahrheit über sich selbst ins Gesicht geschleudert- worauf eine Veränderung der Verteidigungs-Strategie seines neurotischen Alleinsein-Wollens einsetzte- bis hin zur Lüge. Literarisch findet dies viel später (1923) seinen Niederschlag in der Erzählung “ Der Bau“, wo ein dachsartiges Tier von außen (!) das von ihm gegrabene und ihn schützen sollende Labyrinth genießend betrachtet- aber der „autobiographische Kern der Geschichte“ ist hier zu hier zu verorten (S. 33).
Diese Jahre sind geprägt von einer Schaffens-Blockade, Suizidgedanken- Kafka unternimmt mehrere Anläufe an die Front (sic!) zu kommen- um der Krise zu entfliehen.
Trotz der Kriegs- und persönlichen Wirren kommt es zu wichtige Publikationen- insbesonders von der „Verwandlung“- auch stellt sich immer mehr Anerkennung ein- selbst von Werfel, der ihn früher ignoriert hatte.
Stach schildert all das ungemein präzis und mit großer Einfühlungsgabe. Auch Kafkas Verhältnis zum Judentum und zur jüdischen Religion wird differenziert behandelt (u.a. in dem Kapitel “ Was habe ich mit Juden gemeinsam? „, S.98 ff).
Der/ die Leser/in bekommt voll mit, daß es nicht den „einen“, den „Kafka aus einem Guß“ gibt- vielmehr sind deutlich Entwicklungen, ja Sprünge zu sehen. In seinen „Mediationen“ in Zürau gegen Kriegsende etwa will er „das Eigenste mit dem Zeitgemäßen zusammendenken, er sucht sich in seiner Zeit zu situieren, er sucht einen Ort, an dem es möglich ist, geistig zu überleben (S.266). Und auch ein legendärer Text wie der „Brief an den Vater „, eine „erbarmungslose Abrechnung“ (S.337) mit dem Haustyrannen ist nicht frei von „Widersprüchen, und es hat nicht den Anschein, als sei sich Kafka ihrer völlig bewußt gewesen“(S. 33O).
Stach bemüht sich den sozialen Hintergrund des Lebens und Wirkens von Kafka einzubeziehen, attackiert die „Geistes“wissenschaften- die von einer gänzlichen „geistigen Autonomie“ des schreibenden Subjekts von der Gesellschaft schwadronieren (S. 25). Ehrlicherweise gilt es festzuhalten, daß er diesem kritischen methodischen Ansatz selbst nur bedingt gerecht wird. Die großen gesellschaftlichen Ereignisse nehmen vergleichsweise recht wenig Raum ein, die Oktoberrevolution und ihre weltgeschichtliche Bedeutung schrumpft bei ihm zum „Putsch der Bolschewiki“ (S. 245).
Die ProtagonistInnen der ArbeiterInnenbewgung kommen bei ihm meist nur als Opfer nicht als AkteurInnen vor: etwa die -jüdischen- Führer der Münchner Räterepublik, die von der Reaktion brutal ermordet werden- begleitet vom geifernden Geschrei der bürgerlichen Medien (S. 372). Nahezu gänzlich fehlt bei Stach eine Behandlung der alles andere als kleinen tschechischen Linken.
Nichtsdestotrotz sollte man/ frau sich auf diesen dritten Teil seiner umfassenden und tiefgehenden Kafka-Biographie einlassen und sich auch ihren ersten Teil, der Kafkas Jugend-Jahre zum Gegenstand hat und gerade erschienen ist („Die frühen Jahre“), nicht entgehen lassen.
Hermann Dworczak
Reiner Stach Kafka. Die Jahre der Erkenntnis
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2011. 726 Seiten. 15,40 Euro
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