Reiner Stach KAFKA. Die Jahre der Entscheidungen (Rezension)
Man/ frau gewinnt wichtige Einblicke in die komplizierte, ja verkorkste Psychostruktur des genialen Schriftstellers- insbesonders seine neurotische Angst vor Sexualität (1). Als er etwa Felicitas Bauer wiedergewinnen will, wird ein Treffen in Bodenbach arrangiert. Die beiden gehen aufs Zimmer, aber Kafka zeigt sich erneut gänzlich unfähig zu erotischen Gesten und liest aus seinem Roman vor….
Auch stilistisch gibt es bei Stach hervorragende Passagen, in den er sich geradezu filmisch an die Ereignisse in der geschilderten Zeit herantastet.
Die Insuffizienzen des Buchs sind jedoch nicht zu übersehen. Um nur einige zu nennen:
– während der Beziehungs-Kiste und dem Literatur-Betrieb und seinen Zänkereien enorm viel Raum eingeräumt wird, verblassen historische Geschehnisse
– der Erste Weltkrieg wird zwar -mitunter sehr treffend und drastisch- geschildert, wesentliche Aspekte fehlen jedoch gänzlich: die internationale ArbeiterInnenbewegung, die ständig vor dem drohenden Weltenbrand gewarnt hatte; die schließliche, schändliche Kapitulation der meisten sozialdemokratischen Führungen und deren Einschwenken auf imperialistischen Kriegskurs etc. Diese Aspekte sind auch für Kafka von zentraler Bedeutung: hatte er doch – in seiner Jugend- enge Kontakte zu sozialistischen und anarchistischen Gruppierungen, nahm am 1. Mai teil etc. Michael Löwy hat dazu ein sehr schönes Buch verfaßt: “ Der rebellische Träumer“ (2).
Bezeichnenderweise fehlen bei Stach in der Bibliographie zur Kriegsfrage Namen wie Rosa Luxenburg oder Lenin .
– es rächt sich, sich NUR auf die Jahre 1910-15 zu konzentrieren und keine- starken- Bezüge zu der Zeit davor und danach herzustellen. Bei dem Problemkreis Sexualität wirft sich die Frage auf: war die Hemmung, ja der „Ekel“ vor ihr bei Kafka immer gegeben?; wie steht es mit Bordell-Besuchen?; und wie schaut es später aus: in der Beziehung zu Milena Jesenskaja oder Dora Diamant, mit der der „ewige Junggeselle“ ab 1923 in Berlin sogar zusammenlebte?
Die Wagenbach-Biographien (3), wo sich zu den hier angerissenen Punkten etliches findet, werden zwar vom Autor erwähnt und gelobt, nicht jedoch substantiell auf sie eingegangen.
Alles in allem: interessante- neue- Einblicke, aber eine umfassende, synthetische Kafka-Biographie steht- ähnlich wie im Fall von Arthur Schnitzler- noch immer aus.
Hermann Dworczak
2) Michael Löwy „Kafka- Sognatore Ribelle“, Eleuthera, Milano 2007
3) Klaus Wagenbach Franz Kafka. Biographie seiner Jugend. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2006. Klaus Wagenbach Franz Kafka. Rowohlt Monographien Bd. 91. Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg 1964
Reiner Stach KAFKA. Die Jahre der Entscheidungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002, 671 Seiten 30,80 Euro.
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