[Brunath] Schutzloses und nutzloses Europa?
Essay des Artikels „Dem nutzlosen Europa droht ein Krieg mit der Ukraine“ auf DE.RT von Rainer Brunath
Hamburg, 15.7.2023
Die Position der USA auf dem NATO-Gipfel in Vilnius, die weitere Hoffnungen der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft quasi erledigte, sollte eigentlich den Europäern derart die Augen öffnen, dass Washington sie jederzeit genauso schnell fallen lassen kann, wie es jetzt Kiew fallen lässt.
Viele Jahre lang hatte die Ukraine gebettelt und keine Mühen gescheut, sich den NATO-Standards anzupassen. In den vergangenen anderthalb Jahren nahm sie sogar die Zerstörung des Landes in Kauf und trieb ihre Männer in den blutigen Tod, nur um auf Biegen und Brechen der Allianz beizutreten. Und was ist das Ergebnis?
„Die USA sollten der Ukraine keine Art von Sicherheitsgarantien – und erst recht keine NATO-Mitgliedschaft – anbieten, weder jetzt noch nach dem Krieg„, so das Urteil US-amerikanischer Militäranalytiker. Das wäre es dann.
Washington dagegen hat alle seine Ziele erreicht: Die Verbindungen zwischen Deutschland und Russland sind zerstört, die europäische Wirtschaft liegt in Trümmern, europäische Industrie wandert in die USA aus. Gewinne sind und werden weiter eingefahren. Das Risiko eines Weltkriegs braucht die USA jetzt am wenigsten.
Doch in welchem Zustand bleibt nach dem Ende des Konflikts Europa? Als Hauptpreis wurde ihm die Plünderung der Ruinen Russlands versprochen. Allerdings gibt es keine Ruinen. Wozu also verzockt es seine Wirtschaft, entwaffnet sich freiwillig und lässt die Armeen ohne Ausrüstungen zurück? Eine Niederlage in der Ukraine verspricht Europa – der EU – Jahrzehnte von Armut, Rebellionen und – langfristig gesehen – einen Zusammenbruch.
Aber auch das militärische Bündnis mit den USA erscheint inzwischen sehr unsicher. Wenn sich die USA unverblümt weigern, die Ukraine zu beschützen, was hindert sie daran, Europa genauso den Schutz zu verweigern?
Das US-amerikanische Volk befürwortet, glaubt man Analysten, in seiner Mehrheit wieder den Isolationismus, will alle äußeren Herausforderungen ignorieren und sich auf die Innenpolitik konzentrieren. Alle Hauptkonkurrenten von Joe Biden, sowohl bei den Republikanern als auch bei den Demokraten, versprechen, den Konflikt in der Ukraine zu beenden. Es wird nicht mehr gelingen, der Bevölkerung den Schutz der Demokratie in der Ukraine zu verkaufen. Den US-amerikanischen Wählern wird mehr und mehr klar, dass der Krieg in Europa über den Ozean schwappen kann, und sie wollen sicher nicht nicht, dass zu ihnen russische Raketen fliegen.
In dieser Lage sollten die Europäer beginnen, sich sorgfältiger in Artikel 5 der NATO-Satzung einzulesen. Dann würden sie erkennen, dass er im Grunde sehr schwammig formuliert ist. Ja, alle Allianzmitglieder verpflichten sich zum Schutz eines angegriffenen Mitglieds, allerdings kann dieser Schutz sehr unterschiedlich ausfallen. Er könnte sich beispielsweise in Form von Waffenlieferungen äußern oder gar in Form diplomatischer Maßnahmen wie Regierungserklärungen mit einer Verurteilung der Aggression.
Dieser Artikel war nur zu einem einzigen Mal seit seinem Bestehens angewandt worden – zugunsten der USA. Nach dem Terroranschlag vom 11. September begannen die Allianzmitglieder, ihre US-amerikanischen Herren vor der „Aggression“ zu schützen. Zugunsten europäischer Staaten wurde diese Regel bisher kein einziges Mal angewandt. Was lässt die europäischen Politiker eigentlich mehr erwarten?
Schauen wir zur Ukraine: Obwohl das Land der NATO nicht beitreten konnte, wurde dafür in Bezug auf Artikel 5 dieser Passus de facto bereits angewandt – alle Vasallen der USA traten in der einen oder anderen Form für ihren Schutz ein. Doch was hat es der Ukraine gebracht?
Noch zu Zeiten des Kalten Kriegs diskutierte die Öffentlichkeit regelmäßig die Frage, ob die USA „New York für Berlin opfern“ würden, sollte es zum Krieg mit der UdSSR kommen. Nun stellt sich diese Frage wieder. In Bezug auf Riga, Vilnius und Tallinn gibt es inzwischen keine Zweifel mehr. Doch auch die Bewohner Berlins sollten nachdenklich werden.
Die Menschen des alten Europa hatten noch vor einem Jahr gewisse Illusionen bezüglich ihrer eingebildeten privilegierten Stellung und Sicherheit in der Allianz. Wieso eigentlich? Weil man sieben Jahrzehnte Frieden gehabt hatte? Spätestens doch nachdem die USA Jugoslawien zerbombt hatten, sollte den Europäern jetzt – zwanzig Jahre danach – in der Krise ein Licht aufgegangen sein – eine Erkenntnis, dass die USA rigoros Gehorsam erwartete. Das hätte doch dazu führen können, sich zu fragen, ob der USA-Schutzschirm nicht nur eingebildet ist.
Das Gegenteil passierte in der EU. Fragen blieben aus und die Politiker unterstellten Europa längst der US-Führung und ließen zu, dass Europa in den vergangenen anderthalb Jahren wirtschaftlich gehörig ausblutete. Zusätzlich erscheint heute Europas Verteidigungsfähigkeit problematisch.
„Der europäische Kontinent ist gespalten, seine Militärausgaben reichen nicht aus, um Russland allein aufzuhalten„, schreibt die britische Zeitung „The Telegraph“. Das klingt nach Fatalismus. Aber man denke mal nach. Das Problem hier liegt nicht darin Russland aufzuhalten. Dieser Ansatz ist eine Chimäre. Die Wahnvorstellung, Russland könne die Ukraine in ein Aufmarschgebiet für einen weiteren Angriff auf Europa verwandeln, ist absurd, „beinahe lächerlich„, räumt die US-Zeitung „Politico“ ein. Russlands Interessen liegen woanders.
Gefahr droht Europa von einem sog. Friedensmodell, welches die USA planen: das israelische Modell für die Nachkriegsukraine bedeutet, das Land in ein „Stachelschwein“ zu verwandeln, es ohne jegliche Garantien einfach mit Waffen aufpumpen und ihre Kämpfer auszubilden. Ob dem Russland zustimmen würde, ist allerdings fraglich. Europa sollte dankbar sein, wenn Russland das nicht akzeptieren würde.
Sollten aber die Kämpfe zwischen Russland und der Ukraine zu einem Ende kommen und die USA könnte ihren Plan durchsetzen, dann verbliebe direkt im Zentrum Europas eine gut ausgebildete, vorzüglich bewaffnete und sorgfältig aus den USA versorgte Armee mit brauchbarer Kampferfahrung. Eine Arbeit oder ein friedliches Leben gäbe es für diese Menschen nicht, denn heute ist die Ukraine ein verwüstetes Land.
Wohin wird also eine Million wütender ukrainischer Männer gehen, die gesehen hatten, wie ihre Kameraden für die NATO und für Selenskijs Milliarden starben, wie sie von ihren „europäischen Freunden“ endlos betrogen und verheizt wurden? Im Osten wurden sie in diesem Szenario bereits von den russischen Streitkräften geschlagen. Wohin also würden diese Männer ihren Blick richten? Der Westen Europas würde durchdrungen von Terroristen, die vor nichts zurückschrecken.
Das Essay als PDF: Schutzloses und nutzloses Europa
No comments yet.