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[R. Brunath] Essay „Ungelernte Lektion“

Bloged in Allgemein by friedi Sonntag Juni 25, 2023

Ungelernte Lektionen
Essay von Rainer Brunath zu einem Artikel von Tilo Gräser, erschienen bei  https://www.nachdenkseiten.de/?p=99578#more-99578

Hamburg, 23.6.2023

Mit fast 4 Millionen Soldaten, 3.500 Panzern und 2.700 Flugzeugen überfiel die Hitler-Wehrmacht gemeinsam mit verbündeten Truppen aus Rumänien, Finnland, Ungarn und der Slowakei am 22. Juni 1941 die Sowjetunion. Nach Vorstellungen der Wehrmachtsgeneräle sollte der „Blitzkrieg“ nur wenige Wochen dauern. Er forderte bis zu seinem offiziellen Ende am 8. Mai 1945 allein auf sowjetischer Seite etwa 27 Millionen Tote.

Der Historiker Erich Später schrieb 2015 in seinem Buch: „Der deutsche Angriff erfolgte, ohne dass zuvor politische und/oder ökonomische Forderungen an die Sowjetunion gestellt worden wären“, Der Überfall ohne ein Ultimatum noch einer Kriegserklärung wurde von der Goebbelschen Propaganda als europäischer Kreuzzug zur Verteidigung der Kultur gegen den jüdischen Bolschewismus verklärt.

Deutsche Industrieeliten im Konsens

Der Autor wies darauf hin, die „deutschen Machteliten in Wirtschaft, Verwaltung und Militär hätten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik nicht aufgehört, über eine erneute Ost-Offensive nachzudenken“.

Der Autor weiter in seinem interessanten Buch: „Das Gebiet der Sowjetunion sei wegen seiner Rohstoffe und Absatzmärkte sowie billigen Arbeitskräfte zum Traum-Ziel der deutschen Expansion geworden, bei der es um eine autarke Großraumwirtschaft statt einer stärkeren internationalen Verflechtung gegangen sei. „Mit dem Überfall auf die Sowjetunion realisierte sich das radikalste Programm zur vollständigen Vernichtung eines Teils der Menschheit, das jemals erdacht und geplant wurde“, betonte Erich Später.

Hitlers Kriegsankündigung

Zuvor hatte Moskau lange Zeit versucht, gemeinsam mit den westlichen Staaten eine kollektive Sicherheitspolitik gegenüber Hitler-Deutschland zu gestalten. Das war spätestens mit dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938 gescheitert. 1939 versuchte die Sowjetunion mit dem Nichangriffspakt Zeit zu gewinnen. Die Gewissheit für das kommende Unheil beseitigte er nicht, beruhigte aber scheinbar die Sowjetische Führung. Man glaubte, bis dahin wär’s noch ziemlich weit, der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich und England würde lange dauern, erst danach, irgendwann, würden wir mit dem Faschismus zusammenprallen, so der sowjetische Schriftsteller und Kriegsberichterstatter Konstantin Simonow.

Schon Lenin ahnte, dass es früher oder später zu Eroberungs- und Vernichtungsgelüsten seitens Deutschlands, seitens des gesamten atlantischen Westens kommen würde. Die Pläne der deutschen Faschisten waren damals kein Geheimnis: „In seinem Buch ‚Mein Kampf‘ (1. Band 1924) hatte Hitler, die programmatische Erklärung abgegeben: ‚Der Kampf gegen die jüdische Weltbolschewisierung erfordert eine klare Einstellung zur Sowjetunion (…) Wir weisen den Blick nach dem Land im Osten (…) Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland denken‘.“ Das schrieb der Historiker Fritz Fischer 1992 in seinem Buch „Hitler war kein Betriebsunfall“.

Überraschte Deutsche

Kurt Pätzold schreibt in seinem Buch Der Überfall: „Was ihnen (den Deutschen) nun für ein Krieg bevorstand, ahnten die am wenigsten, die seit Jahren die faschistischen Propagandabilder vom ‚Bolschewismus‘ und ‚bolschewistischem Judentum‘ eingesogen hatten, die, im September 1939 verschwunden, nun aus den Archiven wieder hervorgeholt wurden. Sie gerieten in einen Krieg ohne geschichtliches Beispiel.“

Pätzold weiter in seinem letzten Buch: „ Sie hätten sich mehrheitlich in einen Krieg führen lassen, in dem sie nur verlieren konnten: „Das eigene Leben, Verwandte und Freunde, Hab und Gut und gemeinsam das Ansehen, das seine Vorfahren als Nation sich einst erwarb.“ Das war eine Warnung vor der „missbräuchlichen Mobilisierung von Völkern gegen ihre eigenen Interessen“.

Und wahnhafte Anschuldigungen in der Sowjetunion

Simonow, Kriegsberichterstatter und Autor schrieb über die Rolle Stalins im Krieg. „Ohne das Jahr 37 wären wir im Sommer 41 unstrittig in jeder Hinsicht stärker gewesen“, so der Schriftsteller. Selbst 1940 und 1941 habe der „Wahn der Verdächtigungen und Anschuldigungen“ angehalten und dazu geführt, dass hochrangige Militärs verhaftet und ermordet wurden. Der offizielle Grund: Sie hätten den Gerüchten von angeblichen feindseligen Absichten Deutschlands Glauben geschenkt. Aber nach dem Überfall habe „Innerhalb von wenigen Stunden das gesamte Leben der UdSSR abrupt eine neue Richtung erhalten“, schrieb Nekritsch über die Folgen des Kriegsbeginns. „Der Wunsch aller fand in der lakonischen Schlagzeile der ‚Prawda‘ vom 23. Juni 1941 seinen Ausdruck: ‚Der Faschismus wird vernichtet werden.‘“

Westliche Interessen zu Beginn der 20. Jahrhunderts

Die massiven, selbstverursachten Fehler der sowjetischen Führung unter Stalin gehören ebenso zur Wahrheit des 22. Juni 1941 wie das Interesse der führenden Kräfte im Westen an dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Bevor sie später mit dem überfallenen Land die Anti-Hitler-Koalition bildeten, hofften sie, dass das auch mit ihrer Hilfe wieder aufgerüstete Deutschland seiner zugedachten Rolle als „Bollwerk gegen den Bolschewismus“ gerecht wird. Auf diese Rolle hatte bereits 1920 der US-amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen hingewiesen.

Allgemein gilt der Versailler Vertrag von 1919 aufgrund seiner Bestimmungen unter anderem gegenüber Deutschland als eine der Ursache für das Aufkommen des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges. Über den Versailler Vertrag beschrieb Veblen klar: die „zentrale und verbindlichste Bestimmung“ des Vertrages und des Völkerbundes sei „eine uneingestandene Klausel“ gewesen, „durch welche sich die Regierungen der Großmächte zur Unterdrückung Sowjetrusslands zusammentun“. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges hätten das seit 1917 kommunistische Russland als Bedrohung ihres eigenen, westlichen Systems gesehen, welches auf Grundlage der „Eigentümerschaft in Abwesenheit“ funktionierte, d.h. die Herrschaft des Finanzkapitals durch Aktien- und Fondsbesitz und andre finanztechnische Formen. Russland hatte der Dominanz der Profittreiberei aus Grundeigentum und Finanzmitteln den Kampf angesagt, die heute wieder den Globus beherrscht.

Interessengeleitete Nachsicht

Die nach außen gegen Deutschland streng wirkende Vertragskonstruktion war in Wirklichkeit von einer „bemerkenswerte Nachsicht“ bestimmt, „die auf eine Art von betrügerischer Nachlässigkeit hinausläuft“, so der Autor Vebelen und weiter: „Das hätten sich vor allem die britischen Vertreter in Versailles ausgedacht, mit dem Ziel, Deutschland nicht so sehr zu lähmen, dass das kaiserliche Establishment in seinem Kampf gegen den Bolschewismus wesentlich geschwächt wird“. So blieben nach dem Krieg die Generäle, Industriellen und Junker, eben das ganze kaiserliche Establishment, weitgehend unbehelligt. Die deutsche Oberschicht sollte verschont bleiben und das Elend der Kriegsfolgen sollte nur die einfachen Menschen in Deutschland treffen, erkannte Veblen. Der Zorn der Unterschicht sollte dann der Nährboden sein, auf dem die herrschenden Kreise in Deutschland im Sinne ihrer westlichen-britischen Gesinnungsgenossen ein reaktionäres, antibolschewistisches Regime errichten konnten. „In ihrem Bestreben, die bestehende politische und wirtschaftliche Ordnung zu sichern – die Welt für eine Demokratie der Investoren sicher zu machen – haben sich die Staatsmänner der Siegermächte auf die Seite der kriegsschuldigen deutschen abwesenden Eigentümer und gegen deren untergebene Bevölkerung gestellt“, urteilte Veblen, Jahre bevor der Faschismus sich in Deutschland breitmachte und 1933 an die Macht gehievt wurde.

Konsequenterweise ließ der Westen (hautsächlich Großbritannien) gegenüber dem deutschen Faschismus fast alles durchgehen, von der Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes 1936, über die Annexion der Tschechoslowakei 1938 bis hin zum Überfall auf Polen 1939. Der Historiker und Gewerkschafter Peter Scherer schrieb dazu 1989 in seinem Buch „Freie Hand im Osten – Ursprünge und Perspektiven des Zweiten Weltkrieges“: „Nicht der Vertreter des deutschen Imperialismus wurde zwischen 1935 und 1938, ja bis 1940 hinein, von Großbritannien und Frankreich hofiert, sondern der Kommunistenfresser und Antibolschewik.

Und so bestätigte 1937 der britische Politiker Edward Frederick Lord Halifax beim Besuch Adolf Hitlers auf dem Obersalzberg, was Veblen schon voraussagte: Hitler habe dem Kommunismus den Weg nach Westeuropa versperrt, indem er ihn im eigenen Land vernichtete und „dass daher mit Recht Deutschland als Bollwerk des Westens gegen den Bolschewismus angesehen werden könne“.

Westliche Eroberungsgelüste

Der Historiker Peter Scherer machte auf die zunehmende Rolle des US-Kapitals hinter der britischen Politik aufmerksam und zitierte den späteren US-Präsidenten Harry Truman. Der hatte am 24. Juni 1941, zwei Tage nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion, erklärt: „Sehen wir, dass Deutschland gewinnt, so müssen wir Russland helfen, wird aber Russland gewinnen, so müssen wir Deutschland helfen, und auf diese Weise sollen sich nur möglichst viele totschlagen.“

Der Überfall am 22. Juni vor 82 Jahren war „keine spezifisch deutsche Aktion“, stellte Scherer klar. Briten, Franzosen, Tschechen, Japaner, Amerikaner und 1920 Polen hätten sich schon daran versucht, „das bedrohliche Loch zu stopfen“, dass das kommunistische Russland und dann die UdSSR „in die Landkarte des Imperialismus gerissen hatte“. Hitler habe als „ideeller Gesamtimperialist“ gehandelt, es aber nicht vermocht, „der imperialistischen Führungsmacht Großbritannien ihren Segen zu seinem Kreuzzug abzuringen“ – die auch das Interesse hatte, dass der Konkurrent Deutschland geschwächt wird oder gar untergeht.

Ungelernte Lektionen

Mit Blick auf das Verhalten der Westmächte schrieb Peter Scherer: „Die Zeit nach Barbarossa kam nicht und die Westmächte zogen es endgültig vor, den deutschen Konkurrenten mehr zu fürchten als den Bolschewismus, der ihnen auf Jahre hinaus ein nützlicher Verbündeter sein sollte.“ Zugleich gaben sie ihre antikommunistische Russophobie nicht auf: „Deutschland wurde nach Meinung der US-Regierung und ihres Emissärs Allan Dulles 1943 für ‚Ordnung und Wiederaufbau‘ hinter einem neuen antibolschewistischen ‚sanitären Riegel‘ vorgesehen.“

Wie einst Deutschland soll nun die Ukraine als Bollwerk gegen das heutige, nicht mehr kommunistische Russland dienen, samt Faschisten. Dazu wird sie missbraucht, aufgerüstet und zerstört. Wenn auch der Bolschewismus Geschichte ist, ist Russland immer noch der Feind: Weil es bis heute nicht bereit, sich einfach dem Westen unterzuordnen. Wie damals wird auch dieser Versuch scheitern, den aber viele Menschen auf beiden Seiten mit dem Leben bezahlen. Die Interessen dahinter sind die gleichen wie vor mehr als 100 Jahren beim Ersten Weltkrieg und vor mehr als 80 Jahren beim Zweiten Weltkrieg.

Das Essay als PDF: Ungelernte Lektionen

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