[Brunath] Essay zur Rede Frank-Walter Steinmeier vom 28.10.22
Ausgehend von der Rede des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zeigt Rainer Brunath in seinem Essay die russische Sicht der Dinge.
Obsessiver Kriegs-Propagandist und ein unermüdlicher Visionär
Fünfundvierzig Minuten lang legte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 28. Oktober vor handverlesenem Publikum seine Sicht auf die gegenwärtige Weltlage dar. Ergriffen von seiner eigenen gefühlstriefenden Beschreibung seines Bunkerbesuchs in der Ukraine nutzte er die ersten 27 Minuten vor allem, um auf „Widerstandskraft und Widerstandsgeist“ einzuschwören. Er warb für ein „Ja“ zu „Einschränkungen“, um eine „starke Bundeswehr“ aufzubauen. Unser Land sei zwar „nicht im Krieg“, wie er trotz der Waffenlieferungen blauäugig versicherte, aber ein Miteinander mit Russland könne es seit dem vermeintlichen „Epochenbruch“ des 24. Februar nicht mehr geben.
Im Rest der Rede, nach seiner Kampfansage an Russland und China, beschwor er angesichts der Klimakatastrophe die Gemeinsamkeit der Welt. Er beteuerte, eine neue Zweiteilung „Wir gegen die“ sei „nicht in unserem Interesse“. Wie der erste Teil seiner Rede zum Ausklang zusammenpasst, ist sein Geheimnis.
Diese nach rechts buckelnde Rede wird denen, die ihn vor sich hertreiben, nicht reichen. Schon am nächsten Tag schmähte die FAZ, er habe sich mit der Kehrtwende gegenüber seiner früheren Politik „viel Zeit gelassen“. Sie werden ihn ersetzen wollen durch jemanden, der den alten deutschen Militärgeist überzeugender verkörpert als dieser obsessive Kriegspropagandist.
Im diametralen Gegensatz zur Rede unseres „Möchtergern-Waisen“ im Bundespräsidentenamt stand die Veranstaltung des Waldai-Club in Moskau, dessen diesjähriges Treffen vom 24. bis 27. Oktober in Moskau unter dem Motto „Eine posthegemoniale Welt – Gerechtigkeit und Sicherheit für jeden“ tagte. Ein internationales Meeting von Politikern, Diplomaten, Wissenschaftlern und Journalisten, das seit 2004 jährlich in Russland stattfindet. Im Gegensatz zu von US-Aussenminister Blinken verkündeten Doktrin „die Welt darf nicht ohne US-Führung sein“, was de facto die universale Legitimationsgrundlage für Erpressung, Schikane, Krieg und Völkermord impliziert, wurde in den Beiträgen eine künftige Weltordnung ohne einen Führungsanspruch einzelner Staaten oder Staatengruppen gefordert. So ging das Thema des Treffens ging weit über den gegenwärtigen Konflikt hinaus. Mit der Ausrufung einer „posthege-monialen Welt“ setzte es einen progressiven Ausgang aus diesem zweiten Kalten Krieg voraus, den das US-Imperium zu Erhaltung seines Hegemonieanspruchs inszeniert hatte.
Präsident Wladimir Putin absolvierte einen fast fünfstündigen Rede-Marathon mit einem freien Frage-und-Antwort-Block vor internationalem Publikum. In der Essenz beschrieb er eine unumkehrbare Entwicklung, die im Rahmen der Gesetzmäßigkeit des UN-Völkerrechts das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten durchsetze. Es stünde außer Frage, dass diese Perspektive für die Staaten des Globalen Südens attraktiv sei, die seit Jahrzehnten, viele seit Jahrhunderten, mit der kolonialen und neokolonialen Ausbeutung, mit Sklaverei und Krieg sowie der westlichen Arroganz, Bevormundung und Erpressung haben leben müssen.
Mit einen gewissen spöttischen Humor stellte Putin fest, dass der kollektive Westen zumindest propagandistisch dabei sei, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen, während der Rest der Welt beginne über die möglichen Konsequenzen zu diskutieren. Das erinnere an den 2. Weltkrieg, den das Goebbels-Ministerium bis zum Ende immer gewann, obwohl schon Jahre zuvor in Teheran unter den Alliierten die Verhandlungen über die Nachkriegs -Weltordnung begonnen hatten.
Ähnliches geschehe nun auch in Moskau. Und in der Perspektive seinen die umwälzenden Ereignisse der 2020er-Jahre „revolutionärer“ und reichten historisch weiter als jene Ereignisse der ersten Hälfte des 1940er-Jahrzehnts. Putin bezog sich explizit auf Lenins Charakterisierung einer revolutionären Situation; in der verkürzten Version als eine Lage, „in der die Herrschenden so nicht mehr weiter können und die Beherrschten so nicht mehr weiter wollen“. Diese Situation habe sich – im globalen Maßstab – immer mehr verfestigt.
Putins Absage an jede Form globalen Dominanzanspruchs war überzeugend: „Die Völker Eurasiens, des Nahen und Mittleren Ostens und des Globalen Südens sind schon lange der Ausbeutung und Drangsalierung durch den Werte-Westen überdrüssig. Für erfolgreichen Protest fehle ihnen bislang jedoch die „kritische Masse“, das ökonomische und militärische Gewicht, um tatsächlich die neokolonialen Fesseln abzuwerfen. Mit dem Aufstieg der eurasischen Mächte, insbesondere China und der neoliberale Selbst-Ruinierung des Westens und dem Krieg Russlands gegen den von der gesamten NATO mit allen verfügbaren Mitteln unterstützen Front- und Vasallenstaat Ukraine habe sich die Lage komplett verändert. Die versteinerten Verhältnisse würden beginnen zusammenzubrechen. Das ermuntere die Völker zu Widerstand und Selbstbestimmung.
Putins Rede war auch ein Abschied an „Globalisierung“ und „Kultur“ des Werte-Westens. „Globalisierung“ im Kontext des Westens sei nichts anderes als die Expansion des angloamerikanischen finanzkapitalistischen Anspruchs auf maximale Rendite, leistungslose Coupons, erhoben von der Wall Street und der Londoner City. Freier Handel und Transit sei durch die Sanktionspolitik des Kollektiven Westens eingeschränkt, der Dollar wurde in eine Waffe verwandelt. Geld, Gold und ganze Tankerladungen von Öl wurden auf offener Bühne geraubt – als Ausbund einer finanzkapitalistisch-mafiösen Degeneration der Globalisierung.
Ebenso ist Putins Absage an den globalen Kulturanspruch des Werte-Westens vor allem eine Absage an seine Dekadenz als Waffe des Überlegenheitsanspruchs. So sei z.B. die umfassende „Cancel-Kultur“ im Kern eine Negation der Kulturleistungen von Tschaikowski, Puschkin und Dostojewski, Spitzen europäischen Geistesschaffens. Die Nazis hätten Bücher verbrannt, nun „cancelt“ man alle freien Gedanken. Putin schloss seinen Beitrag einfach gesagt so:
Macht euren Kram, wie ihr wollt. Nur lasst uns damit in Frieden. Wir haben tausend-, teils mehrtausendjährige Kulturen und Traditionen. Und wir sind stolz darauf. Wir brauchen eure Belehrungen nicht.
Putin wird nicht der einzige bleiben, der so denkt und handelt. Wenn die kritische Masse erreicht ist wird die Umwälzung der globalen Verhältnisse zur Lawine.
8.11.22, Rainer Brunath
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