[Brunath] Essay: Die europäische Linke hat die Orientierung verloren
Die Umdefinition der sozialen Kräfte hat die politische Linke orientierungslos gemacht. Es gelang den Systemkräften, die sozialen Problem wie Armut, Ausbeutung, Kapitalanhäufung usw. in einen neuen Rahmen zu stellen, der keine sozialen Implikationen mehr enthält sonder auf das Freund-Feind-Schema zwischen Autkratie und Demokratie reduziert ist. Der Linken wurde damit die Orientierung entzogen.
Die europäische Linke hat die Orientierung verloren
Essay von Rainer Brunath
„Das Ende der Geschichte“ nach dem Ende der Sowjetunion. Davon waren die Geopolitiker des Westens überzeugt – oder sie versuchten es dem Publikum einzureden. Der Klassen-Widerspruch sollte überwunden sein, die Welt bestehe nur noch aus einem System, dem westlich-kapitalistischen unter der Führung der einzigen Supermacht USA.
China? Das gab es in der offensichtlich eurozentristisch-westlichen Sicht mit dem Tunnelblick des Globalen Nordens nicht.
Aber inzwischen ist man aufgewacht – bzw hat die Traumdeuter befragt. So wurde aus dem Ende der Geschichte ein neuer politischer Antagonismus, der autokratische Staat in Konkurrenz zum demokratischen Staat. China wurde zur Autokratie umdefiniert. In dieser Kategorie figurierte auch bald der russische Präsident Wladimir Putin, dem man wahre Wunderkräfte unterschob und der das Kunststück fertig brachte an mehreren Orten auf der Welt gleichzeitig zu sein.
Alte Gegensätze verschwanden in der Versenkung wie Antiimperialismus gegen Imperialismus, Sozialismus (und soziale Marktwirtschaft) gegen Liberalismus (und Neoliberalismus). Linker Schnee von gestern – was eine europäische Sichtweise ist und die von den Meinungsmedien den Menschen propagandamäßig eingehämmert wird. Aber damit sind wir Europäer allein auf der Welt, denn die fehlenden oder falsch dargestellten Inhalte von Autokratie werden nicht vom globalen Süden und Osten geteilt.
Demokratie versus Autokratie ist ein populistischer Diskurs, der die Politik personalisiert und damit reduziert. Der neue Antagonismus fokussiert auf die Person der Autokraten und verwässert und negiert politische Inhalte und Differenzen.
Die europäische Linke bis hin zu „Die Linken“ verfallen mehr und mehr diesem neuen Antagonismus und merken nicht, dass sie die Orientierung verloren haben und einem Phantasma folgen in dem die politischen Gegner die Autokraten sind, gegen die sie die westlichen (Schein-)Demokratien ums Verrecken verteidigen müssen – wie autoritär diese auch immer seien. Dabei gelingt ihnen das Kunststück, die NATO zu einem antiautokratischen Bündnis umzudeuten. Und auf dieser Schiene werden ehemals glühende Antikapitalisten in Kürze zu Antiautokraten und Befürwortern der NATO, dessen Verbrechen im Jugoslawienkrieg nicht mehr existent sind.
Ihre Stellungnahmen werden zu einem Bekenntnis zur westlichen, transatlantischen Politik.
Der Schweizer Grünenpolitiker, ehemaliges Mitglied der trotzkistischen Vierten Internationale Peter Sigerist, empfiehlt inzwischen der Friedensbewegung, man solle überlegen, ob die taktisch klugen Aktionen der NATO zur Unterstützung des mutigen Volkes der Ukraine jetzt (nicht) gerechtfertigt seien.
Damit manifestiert sich die grosse Unfähigkeit zur Analyse vieler westlicher Linker. Sie merken nicht, wessen Rede sie führen, sie realisieren nicht einmal, dass sie das Lager gewechselt haben und damit als Interessenvertreter für die Menschen überflüssig geworden sind. Inzwischen ähnelt die Kriegsbesoffenheit der Linken, wie sie in der europäischen Linken vor Ausbruch vom Weltkrieg 1914-18 herrschte.
Kommen wir zum Thema China, dass innerhalb der Linken mit Inbrunst diskutiert wird. Wie kann man das Land und seine Wirtschaftsweise definieren? Kapitalistisch marktwirtschaftlich oder sozialistisch marktwirtschaftlich? Keine der beiden Definitionen findet allgemeinen linken Zuspruch. Die Frage ist für die europäische Linke nicht oder nur sehr mühsam zu beantworten, wohingegen die bürgerliche Seite mit der Definition wo die VR China zu verorten sei, keine Probleme hat. Für sie ist die VR China ein Systemkonkurrent.
Die Euro-Linke sollte deshalb vielleicht zuerst fragen, was ein Land denn als kapitalistisch kennzeichnet. Aber auch hier gibt es viel Verwirrung – eben weil man den Kapitalismus nur auf sein ökonomisches Phänomen reduziert. Aber er ist vielmehr viel komplexer, ein Ganzes, das aus einer untereinander verwobenen Totalität aus gesellschaftlichen Schichten, aus Wirtschaft und Staat, Kultur und Ideologie besteht. Marktwirtschaft allein ist demnach noch kein Kapitalismus. Erst in der Summe diverser Bestandteile wird daraus Kapitalismus – aus Ausbeutung der lohnabhängigen, werktätigen Bevölkerung durch die Klasse der Besitzenden an den Produktionsmitteln, aus der endlosen, dem Profitprinzip folgenden Aneignung und Steigerung des Kapitals und – ganz wichtig – aus der Unterordnung des Staates unter die wirtschaftlichen Interessen des Kapitals. Dafür sorgen endlos viele Lobby-Organisationen mit ihren „Belohnungsprinzipien“ mit denen sie „ihre Politiker, die von ihrem Arbeitsfeld keine Ahnung haben,“ auszeichnen, und die solche Lobby-Empfehlungen dankbar annehmen.
Dagegen besteht in der Volksrepublik China das politische Primat über der Ökonomie, was von der kommunistischen Partei für die Realisierung einer sozialistischen Transformation eingesetzt wird. Kein Lobbyterror und ganz wichtig: die Politiker in ihren Ämtern sind geschulte, professionelle Personen.
Aus systemischer Logik ist die VRC deshalb kein kapitalistisches Land weil:
– öffentliches Eigentum an den Ressourcen in China beibehalten ist,
– die Entwicklung der Produktivkräfte des Volkes gesteuert geschieht und diese nicht der unsichtbaren Hand des Marktes überlassen werden,
– keine kapitalistische Marktwirtschaft in der Lage gewesen wäre, 800 Millionen Menschen in ein paar Jahrzehnten aus großer Armut zu befreien und in einen bescheidenen Wohlstand zu führen,
– und keine kapitalistische Marktwirtschaft in der Lage gewesen wäre, China so lange anhaltend und stabil gegen alle äußeren Widrigkeiten nachholen und aufsteigen zu lassen.
Damit wird offenbar, dass es letztendlich eine euro-zentristische Haltung ist, wenn man im Stile eines Dogmas von reinem Marxismus dessen Weiterentwicklung unter neuen Bedingungen ablehnt. Die KPCh hat es geschafft, die Lage als Drittweltland zu analysieren, um so zu lernen, wie der Übergang zur Entwicklung zu einem Sozialismus erst noch geschaffen werden könnte. Damit ist die VR China ein Land, das im Begriff ist, die ersten Voraussetzungen für eine entwickelte sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Aber schon heute ist der Sozialismus chinesischer Prägung ein System eigener Art, ein System ohne Vorbild und eine mögliche Antwort auf die Frage nach der sozialistischen Transformation für den globalen Süden und den gesamten Osten. Damit wäre er für andere und sozialistische Aufbauversuche in Afrika, Vietnam, Laos und seit kurzem auch in Kuba eine fruchtbare Inspirationsquelle.
Hamburg, 20.9.2022, R. Brunath
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