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Tunesien; 14. Januar, Jasmin-Revolution

Bloged in Diskussion by admin Sonntag Januar 16, 2011

TUNESIEN: DER UNAUFHALTSAME AUFSTIEG DER TUNESISCHEN REVOLUTION

von Johann Schögler

14. Januar 2011; Tag 1 der demokratischen Jasmin – Revolution

Tunesien hat einen ein monatigen aufsteigenden erfolgreichen Widerstand gegen die Einparteien-Diktatur von nun Ex-Präsident Ben Ali hinter sich.


Nichts konnte die Menschen – seit über 2 Jahrzehnte jeglicher Demokratie beraubt – abhalten, sich unter Einsatz ihres Lebens trotz Demonstrationsverbot täglich immer wieder in immer mehr Orten ganz Tunesiens zu Demonstrationen gegen das Regime auf die Straße zu begeben, um das autokratische, autoritäre, korrupte Regime von Ben Ali zum Sturz zu bringen.

Die allgemeine Arbeitslosigkeit von 15% und eine 30% ige bei den AkademikerInnen, verbunden mit einer Perspektivenlosigkeit angesichts der immer stärker werdenden Auswirkungen der Finanz-Wirtschaftskrise auch auf Tunesien, verbunden mit mehr als einem Jahrzehnt ohne Presse- Rede – und Versammlungsfreiheit und Unterdrückung jeglicher Opposition durch Folter und Erschießungen waren die Haupttriebfedern dieses politischen und sozialen Aufstands.

Mehrere duzend Tote und hunderte schwer Verletzte hat die Repression der Polizei ( ein 130 000 Mann starker Unterdrückungsapparat in einem Land von 10 Millionen Einwohnern) in den Reihen der DemonstrantInnen bisher verursacht.

Mehr als Zehntausende skandierten am Freitag den 14. Januar im Zentrum von Tunis und vor dem für grausame Repression verhassten Innenministerium, dass der Präsident endlich abhauen soll.

Die Meldung kam am späten Nachmittag, dass er auf der Flucht sei und die Regierungsgeschäfte übergeben habe.

Das Offizielle Frankreich – die Ex-Kolonialmacht – das zwei Jahrzehnte mit Ben Ali zusammengearbeitet hatte und ihn auch jetzt bis zur letzten Minute unterstützte, sah es als zu riskant an – es leben 600 000 TunesierInnen in Frankreich – einem entlarvten Diktator Asyl zu gewähren, also musste sein Flugzeug noch vor Frankreich in Richtung Süd-Osten nach Saudi-Arabien abdrehen, wo er Zuflucht fand. Unter dem Vorwand, Ben Ali sei ein Bollwerk gegen den islamischen Fundamentalismus, war jegliche Zusammenarbeit mit der Diktatur in Tunis gerechtfertigt worden.

Vergebens hatte Ben Ali am Vortag seiner Flucht noch versucht die Bevölkerung zu beruhigen und sie abzuhalten am Freitag den 14. Januar – dem seit mehreren Tagen vom UGTT-Gewerkschaftsbund angekündigten Generalstreik in der Region Tunis Folge zu leisten – wieder auf die Straße zu gehen. Aufgrund der immer stärker werdenden autonomen Bewegung musste sich sogar der sehr gemäßigte Gewerkschaftsbund zum Streikaufruf entschließen. Sie forderten keineswegs den Rücktritt von Ben Ali, sondern wollten lediglich eine Gesprächsbasis mit ihm herstellen.

Am 13. Januar bei seiner dritten Ansprache innerhalb der letzten 2 Wochen

versprach er, nicht mehr bei den Wahlen 2014 kandidieren zu wollen; die Freiheiten einer Demokratie herzustellen ( was er schon vor 23 Jahren nach seinem putschartigen Machtantritt einmal versprochen hatte) und auf Demonstranten nicht mehr scharf schießen zu lassen. Zugleich aber verhängte er eine nächtliche Ausgangssperre und den Ausnahmezustand. Die Methode Zuckerbrot und Peitsche funktionierte auch nicht mehr.

Bei seiner 2. Ansprache am 10. Januar hatte er noch Drohungen gegen die plündernden Kapuzen ( Aufständischen) ausgesprochen und versucht die Ausweitung der Bewegung einzugrenzen, indem er alle Schulen und Universitäten schließen ließ. Zugleich sollte das Versprechen zur Schaffung von 300 000 Arbeitsplätzen im tertiären Sektor die arbeitslosen AkademikerInnen und die Studentenschaft beruhigen.

Vergebens, „ er kam in der Geschichte zu spät und wurde bestraft „. Die direkte Demokratie der Straße hatte gegenüber der Scheindemokratie der Paläste diesmal die Oberhand gewonnen, denn der täglich breitere Kreise der Bevölkerung umfassende Widerstand war trotz brutaler Polizeigewalt nicht mehr ein zu bremsen. Im Gegenteil, die Repression trieb die Menschen zu weiteren Aktionen.

Die Macht war nur kurz in den Händen von Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi.

Der Druck der Straße gegen ihn – einem Kollaborateur des verhassten Regimes wuchs binnen Stunden an und auch die Verfassung sah vor, dass der Parlaments-Präsident diese Funktion als Interimspräsident übernehmen muss. Dies bis zu den in den nächsten Monaten vorgesehenen „freien“ Wahlen, in denen die bisher unterdrückte Opposition das erste Mal antreten wird können, falls sie sich in so kurzer Zeit zu organisieren vermag, denn nachdem sie Jahrzehnte unterdrückt, auf gesplittert und ausgemerzt worden war, ist das eine schwierige Angelegenheit.

Foued Mbazaa, der vom Verfassungsrat zum Interimspräsidenten ernannt wurde,

beauftragte Ghannouchi eine Übergangsregierung unter Einschluss der Opposition zu bilden. Von der Straße wird er allerdings ebenso wenig anerkannt wie Ghannouchi.

Das Militär in einer zweideutigen Rolle

Zur gleichen Zeit mit der Flucht von Ben Ali hat das Militär die Lufthoheit für ganz Tunesien übernommen und den Luftraum für 12 Stunden gesperrt. Die Ausgangssperre und der Ausnahmezustand sind noch nicht aufgehoben.

Kontrolliert von einem Militär, das sich während des ganzen Protest- Monats zurückgehalten, ja eher manche Demonstrationen gegen die angreifende Polizei geschützt hatte und es bis zu Verbrüderungsszenen zwischen den Militärs und Demonstranten kommen ließ.

General Rachid Ammar, der einige Tage vor dem 14. Januar den Befehl Ben Alis, mit militärischer Gewalt gegen DemonstrantInnen los zuschlagen, verweigerte, musste seinen Posten räumen.

In den Straßen von Tunis ist dieses Militär jetzt allgegenwärtig und versucht die Kontrolle herzustellen. Die Nacht vom 14. auf 15. war trotz Ausgangssperre chaotisch verlaufen. Einerseits waren viele dem Ben Ali-Clan gehörende Gebäude zerstört worden. Dazu gehören neben Banken, Immobilienbüros auch große Einkaufszentren, die sich der Clan in Mafia-Art angeeignet hatte.

Andererseits verbreiteten Banden Angst und Terror in einigen Vierteln. Letzteres wird Miliz- und Polizeigruppen in zivil zugerechnet, die ein Klima von Chaos und Unkontrollierbarkeit schaffen wollen, um die Revolution zu diskreditieren und eventuell in Richtung Militärputsch zu drängen.

Auch in der Nacht von 15. auf den 16. schoss die Miliz und Polizei in Zivil von Autos aus während der Ausgangssperre auf alles was sich draußen bewegte.

Eine demokratische Revolution mit großer geopolitischer Tragweite

Nicht nur im benachbarten Algerien waren die Ereignisse in Tunesien genau verfolgt worden.

In alle Diktaturen Nordafrikas, von Marokko, Algerien, Lybien, Ägypten, Saudi-Arabien, Iran, Afghanistan, Pakistan, Sudan bis Südafrika etc. könnte Bewegung kommen und auch die neu von China eingerichtete Presseagentur in Europa wird Peking am laufenden halten und es könnte der stalinistischen Diktatur ein Schaudern über den Rücken laufen, wenn sie sich vorstellt, dass es im eigenen Land zu so einem demokratischen Aufstand – nur mit hundertfacher Größe – kommen könnte ( der letzte war 1989 am Tian An Men – Platz mit Panzergewalt niedergemacht worden und er kostete 5000 StudentInnen und Oppositionellen das Leben).

Der funktionierende Konsens zwischen der Einparteiendiktatur und der Bevölkerung ist sehr ähnlich. Ben Ali konnte die Massen nieder halten, indem er geschickt eine Wirtschaftspolitik mit einem durchschnittlichen Wachstum von über 4% herbeiführen konnte. Die Leute hatten jedes Jahr etwas mehr und es bildete sich eine Mittelschicht heraus – trotz Korruption und Vetternwirtschaft des Systems. Dafür mussten sie auf alle politischen Freiheiten verzichten. Großteils war der Wohlstand auf die touristische Küstenregion beschränkt. Auch in Bildung war sehr viel investiert worden. 400 000 StudentInnen gibt es, aber danach steht die AkademikerInnenarbeitslosigkeit ins Haus. Auch die Auswirkungen der seit 3 Jahren anhaltenden internationalen Finanz-Wirtschaftskrise führte dazu, dass das Wachstum um 50% zurückging und der Großteil der Jugendlichen die Zukunft ohne Perspektiven sehen. Zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ist unter 30 Jahren. Jeder dritte Uni-Abgänger findet keine Arbeit mehr.

In China ist der Konsens zwischen der Nomenklatura und der Bevölkerung ( allerdings mit älterer Bevölkerungsstruktur) ähnlich. Immer mehr Konsum, jedoch keine Mitsprache oder demokratische Freiheiten. Um die Jahreswende kam es bereits im Zusammenhang mit dem Währungskrieg USA/China zu einem Schlagabtausch. Die USA wollte, dass China den unter bewerteten Yan um 40% aufwerten sollte. Das Argument Pekings, warum es das nicht machen könnte war, dass dies zu einem enormen Exportrückgang, zu Fabrikschließungen, Arbeitslosigkeit und in der Folge zu starken sozialen Unruhen führen würde. Wie gehabt, wird nicht nur in den USA, sondern auch in China kräftigst weiter aufgerüstet.

Die unaufhaltsame Spirale, Mobilisierung – Repression – stärkere Mobilisierung -noch stärkere Repression, begann sich zu drehen.

In den letzten Jahren hat die neo – liberale Wirtschaftspolitik auch in Tunesien Betriebe in noch billigere Länder verschwinden lassen. 230 Euro Monatslohn ist nicht viel, aber wenn Multis in Ägypten mit 120 Euro das gleiche produzieren lassen können, dann wandern die Arbeitsplätze dorthin ab.

Der Aufstand am 18. Dezember ging vom Hinterland, das von dieser Krise stärker betroffen ist als die touristische Küstenregion, aus.

Auslöser für den sich rasch ausbreitenden Aufstand war die Verzweiflungstat durch Selbstverbrennung vor der Präfektur am 17. Dez. des arbeitslosen 26 jährigen Akademikers (zwei Wochen danach erlag er seinen Verbrennungen) Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid, einer Stadt mit 40 000 Einwohnern im Inland. Seine Eltern waren verschuldet und er versuchte sich ohne Lizenz durch Gemüse- und Obstverkauf über Wasser zu halten. Die Polizei hinderte ihn daran und beschlagnahmte seine Waren.( Libération 10.1.)

Einige hundert erzürnte EinwohnerInnen machten darauf hin ein Sit-in vor der Präfektur und bekamen die Polizeigewalt zu spüren.

Diese Vorgangsweise trieb vor allem Jugendliche auf die Palme und sie protestierten in mehreren Städten im Hinterland. Hier wurde auch das erste Mobilisierungskomitee gegründet. Eine Woche danach erschoss die Polizei die ersten zwei Demonstranten in Menzel Bouzaiane. Rechtsanwälte, die sich mit dem Protest solidarisierten, wurden von der Polizei verprügelt, was zu einem Streik von 3000 Rechtsanwälten am 28. Dezember führte.

Von Tag zu Tag weiteten sich die Proteste aus, griffen auf die Küstenstädte über und begannen vor einer Woche in der Hauptstadt. Während der ganzen drei Wochen spielten die Infotech-medien wie Internet, Facebook, Twitter eine entscheidende Rolle bei der gegenseitigen Information. 3,5 Millionen TunesierInnen informierten einander ständig übers Netz. Da es keinen „Kopf“ sprich Avantgarde der Revolution gab, konnte dieser auch nicht abgeschnitten werden und die Zentralmacht konnte nie voraussehen, was wann und wie passieren würde.

In dieser Doppelherrschaftsphase, in der das alte Regime zwar nicht mehr die Macht hat, aber über bürokratische Staatsstrukturen verfügt und die Opposition sich noch nicht strukturiert hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass die islamischen Fundamentalisten versuchen werden,

an Einfluss zu gewinnen. Bisher hatten sie überhaupt keine Rolle gespielt. Ja, wenn Vollbärtige in Demos aufgetaucht sind, so wurden sie von der Menge gehindert, daran teilzunehmen.

In einer Situation, in der die Lage sehr angespannt bleibt, die Unsicherheit zunimmt, sodass

in gewissen Vierteln von den EinwohnerInnen Selbstverteidigungsgruppen auf die Beine gestellt werden, es in den Gefängnissen zu Meutereien kommt, beginnt die zweite Phase der tunesischen Revolution.

Johann Schögler, 16. Januar 2011
Quellen

Tageszeitungen

vom 18.12. bis 16. 01.

Le Monde

Libération

Fernsehen: France2 JT 20h

France5 c dans l’air

11. Januar: Le „Mai 68″ du Maghreb

Tunesische Widerstandseite http://nawaat.org/portail/

Fotogalerie aus Libération über die letzten 24 Stunden; vom 14. auf den 15. Januar in Tunis

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