Die irakische Regierung verhängt die Ausgangssperre und
schließt Schulen, Universitäten und Einkaufszentren. Gleichzeitig werden
die Lebensbedingungen aufgrund des mangelnden sozialen und
gesundheitlichen Schutzes immer prekärer. Wie steht es um den
Tahrir-Platz als Ort des sozialen Widerstands?

von Maurizio Coppola
aus revoltmag, 27. März 2020

Das Coronavirus hat inzwischen den Nahen Osten und Nordafrika
erreicht, die Auswirkungen auf das alltägliche tägliche Leben der
Menschen sind schwerwiegend. Die Ereignisse der letzten Tage haben
gezeigt, dass die Ausbreitung des Coronavirus eine neue Krise innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Krisen
auslöst, die die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas seit
Jahrzehnten durchleben. Die strukturellen Probleme der nationalen und
regionalen Ökonomien und der Mangel an sozialer Sicherheit in Form von
öffentlichen Diensten – in diesem Fall die Gesundheitsdienste – für die
überwältigende Mehrheit der Bevölkerung werden durch die Blockade des
alltäglichen Lebens noch verschärft.

Auch hinsichtlich der sozialen Proteste, die im vergangenen Jahr
praktisch die ganze Region erfasst haben, produziert das Virus wichtige
Veränderungen: In Algerien beschlossen die Studierenden, die seit über
einem Jahr jeden Dienstag auf die Straße gehen, ihre Demonstrationen vorübergehend auszusetzen. Der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune, der von der sozialen Bewegung (dem Hirak) weiterhin abgelehnt wird, verhängte zudem ein generelles Versammlungs- und Demonstrationsverbot. Nach anfänglicher Unentschlossenheit und Diskussionen innerhalb des Hiraks wurden nun auch die Freitagsdemonstrationen bis auf weiteres abgesagt. Auch im Libanon
bremste die zunehmende Verbreitung des Virus die Proteste. Wie greifen
im Irak die Verschärfung der Prekarität und der sozialen Unsicherheit
und die Frage nach demokratischer Organisierung ineinander?

Die Last der Informalität

Die irakische Regierung hat eine vorübergehende Ausgangssperre und
die Schließung von Schulen, Universitäten und Einkaufszentren
beschlossen. Auch Kinos, Restaurants und Bars bleiben geschlossen.
Religiöse Einrichtungen haben religiöse Aktivitäten und Versammlungen
ausgesetzt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums
gibt es derzeit 382 Fälle von Covid19, davon 36 Tote (Stand
27.03.2020). Angesichts des Mangels an durchgeführten Tests dürfte die
Zahl jedoch weit höher liegen.

Eine erste Lektion, die wir aus diesen ersten Wochen der Corona-Krise
ziehen können, ist, dass die Auswirkungen des Virus sozial ungleich
verteilt sind (im re:volt magazine wurde dies etwa mit Blick auf Deutschland, Italien oder den Care-Bereich
angerissen). In den meisten Ländern wurde auf der einen Seite zwar das
gesellschaftliche Leben zur Eindämmung des Virus fast vollständig
blockiert, auf der anderen Seite wurde die Warenproduktion
(materielle Güter und Dienstleistungen) allerdings weitergeführt – oft
ohne oder nur unzureichenden gesundheitlichen und sozialen
Schutzmaßnahmen.

Die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen der Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas unterscheiden sich nun aber wesentlich von denen der westlichen Länder. Wie eine Unesco-Studie zum irakischen Arbeitsmarkt zeigt, arbeiten zwei Drittel der irakischen Arbeit*innen im informellen Sektor, dieser macht 99 Prozent der Privatwirtschaft aus. Die Informalität bietet keine sicheren Löhne und sozialen Sicherheitsnetze im Falle von Lohnausfall. „Die Arbeiter*innen erleben eine Tragödie, denn die große Mehrheit lebt von der Hand in den Mund. Arbeitslose und informelle Arbeiter*innen haben kein regelmäßiges Einkommen und daher keine Ersparnisse und keinen Sozialversicherungsschutz im Falle von Lohnausfall. Heute befinden sie sich in lebensbedrohlichen Schwierigkeiten: Es fehlt ihnen schlicht an Geld, um Lebensmittel zu kaufen“, berichtet Sami Adnan, ein 28-jähriger Arbeitsloser und Aktivist aus Bagdad. Adnan ist bei Workers Against Sectarianism aktiv, einer politischen Gruppe, die sich zu Beginn der sozialen Proteste gegen das sektiererische System [die Einteilung der Bevölkerung nach religiösen Glaubensbekenntnissen] und gegen die sozialen Ungleichheiten gebildet hat.

Soziale Sicherheit – wie lange noch?

Laut der oben genannten Unesco Studie bietet die Beschäftigung im
öffentlichen Sektor die stabilste Arbeit. Dieser deckt im Irak 40
Prozent aller Arbeitsplätze. Die Staatsfinanzierung erfolgt in erster
Linie über den Erdölsektor,
der 99,6 Prozent der Exporteinnahmen, 92 Prozent des Staatshaushalts
und 61 Prozent des nationalen BIP ausmacht. Doch nur jede*r hundertste
irakische Arbeiter*in ist in diesem Sektor beschäftigt. Die öffentlichen
Ausgaben für den direkten Lohn (Arbeitseinkommen und Renten) und für
den indirekten Lohn (Waren und Sozialleistungen) belaufen sich auf etwa
60 Prozent der totalen Staatsausgaben.

Diese Ungleichheit zwischen dem öffentlichen Sektor, der (zumindest
im Moment) noch Löhne und sozialen Mindestschutz garantiert, und einem
privaten Sektor, der fast ausschließlich von Informalität und Prekarität
geprägt ist, schlägt sich im täglichen privaten Konsum nieder. Adnan
erklärt: „Öffentlich Angestellte mit regulären Löhnen leeren die
Supermärkte und sammeln zu Hause Vorräte an. Diejenigen, die gezwungen
waren, von der Hand in den Mund zu leben und nicht sparen konnten,
hungern jetzt.“

Mit der aktuellen Ölkrise (der Preis für das Barrel Brent
ist unter 25 Dollar gefallen) schrumpfen die Einnahmen des Staates
jedoch erheblich. Kurzfristig wird der Staat daher Schwierigkeiten
haben, den Lebensstandard seiner Beschäftigten zu garantieren.

Die Situation wird durch die Nahrungsmittelknappheit und die
steigenden Preise noch verschärft. Adnan fährt fort: „In diesem Kontext
der Knappheit erhöhen die Händler*innen die Preise für Güter des
Grundbedarfs, um sich zu bereichern. So kostet beispielsweise ein Kilo
Tomaten normalerweise 50 Cent, heute sind es nicht weniger als 1,50
Dollar. Der Staat ist nicht in der Lage und will nicht eingreifen, um
dieses für die Mehrheit der Bevölkerung lebenswichtige Problem zu
regeln.“

Die wenigen Menschen, die eine reguläre Arbeit in der
Privatwirtschaft gefunden haben, treffe, so Adnan, die Krise aufgrund
der fehlenden Arbeiter*innenrechte – vor allem der Kündigungsschutz –
ebenso stark: „Ein Freund von mir arbeitete für Caterpillar in einem
Einkaufszentrum in Bagdad für 700 Dollar im Monat. Wegen des Virus sind
die Einkaufszentren geschlossen worden, so dass die Arbeiter*innen zu
Hause bleiben müssen. Aber das Unternehmen weigert sich, die Löhne
weiter zu bezahlen.“

Ein ruiniertes Gesundheitssystem

Wenn an der Arbeitsfront Informalität, Prekarität und Rechtlosigkeit
die sozialen Ungleichheiten verstärken, so gelingt es dem
Gesundheitssystem nicht, sie auszugleichen. Bis in die 1970er Jahre
hatte der Irak eines der am weitesten entwickelten Gesundheitssysteme im
Nahen Osten. Es war ein öffentliches System, universell und frei für
alle. Sowohl die Krankenhauseinrichtungen als auch der Kauf von
Medikamenten waren in den Händen des Gesundheitsministeriums. Mit dem
Regime von Saddam Hussein zuerst und den Kriegen und Embargos der 1990er
und frühen 2000er Jahre danach verschlechterte sich das
Gesundheitssystem jedoch erheblich. „In jeder größeren Stadt des Landes
gibt es jeweils nur ein Krankenhaus. Sie sind klein, alt, schmutzig und
schlecht ausgestattet“, erklärt Adnan.

Das öffentliche System hat eine klassische neoliberale
Umstrukturierung durchlaufen, die Klientelismus und Korruption
hervorgebracht hat: „Die Sanktionen, die in den 1990er Jahren und nach
2003 verhängt wurden, lasten immer noch auf unserem Gesundheitssystem.
Die Privatisierung des öffentlichen Gesundheitswesens hat sich in den
letzten 15 Jahren dramatisch beschleunigt. Heute müssen wir für jeden
einzelnen Ärzt*innenbesuch bezahlen, und oft sind wir gezwungen, den
wenigen im Land verbliebenen Ärzt*innen zusätzlich ‚unter dem Tisch‘ zu
bezahlen, um eine Behandlung zu erhalten.“

Bevor dieser strukturelle Umbau des öffentlichen Gesundheitswesens in
Gang gesetzt wurde, verwaltete und kontrollierte die irakische
Regierung über das Staatsunternehmen Kimadia den Medikamentenimport.
Heute kontrolliert es nur noch 25 Prozent der Importe. Nach Angaben des
Gesundheitsministeriums werden heute 40 Prozent der Medikamente über
den Schwarzmarkt mit den Nachbarländern abgehandelt, viele Medikamente
kommen gar nicht erst ins Land. „Der Medikamentenmarkt und die Apotheken
sind ebenfalls privatisiert worden, und die Kosten sind explodiert“,
berichtet Adnan. Und das schaffe schwerwiegende weitere Probleme:
„Oftmals geben uns die Ärzt*innen einfach Paracetamol, auch bei
ernsteren Symptomen. Außerdem werfen die Händler*innen, die die
Verteilung kontrollieren, selbstgemachte und qualitativ schlechte
Medikamente auf den Markt. Wir haben viele Fälle von Menschen mit Leber-
und Nierenproblemen, die mit der Einnahme selbst hergestellter
Medikamente zusammenhängen.“

Diese Gesundheitsmängel spiegeln sich heute auch im Umgang der
Regierung und des Gesundheitsministeriums mit dem Coronavirus wider:
„Die Politiker*innen sind in keiner Weise um unsere soziale und
gesundheitliche Situation besorgt. Es mangelt an Information und
Prävention. Hinzu kommt, dass religiöse Führer die Nachricht verbreiten,
dass wir als praktizierende Muslim*innen vor einer Ansteckung geschützt
sind. Das ist haarsträubend.“

Solidarität in Zeiten des Virus

Die Proteste, die im Oktober 2019 ausbrachen, müssen daher mit diesen
gesundheitlichen und sozialen Schwierigkeiten einen Umgang finden. Die Proteste gehen grundsätzlich weiter,
insbesondere, weil die Corona-Krise ihren Kern getroffen hat. „Die
Gründe, warum wir in den letzten Monaten auf die Straße gingen, waren
genau diese: Das Sozial- und Gesundheitssystem ist völlig unzureichend,
um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen“, sagt Adnan, der über
die Proteste auch in den sozialen Medien schreibt.

Seit bekannt ist, dass das Virus auch den Mittleren Osten allgemein
und den Irak im Besonderen erfasst hat, ist die Beteiligung natürlich
zurückgegangen, Demonstrationen wurden verschoben, Events abgesagt. Doch
der Tahrir-Platz bleibt – auch wenn von weniger Menschen – weiterhin
besetzt. Das Virus ist selbst zu einem Vehikel des Protests geworden:
„In unserem Zeltdorf auf dem Tahrir-Platz bewegen wir uns nur in kleinen
Gruppen und desinfizieren alles: Kleidung, Zelte, Matratzen, Decken,
Werkzeuge und Utensilien. Wir verteilen persönliche Schutzausrüstung wie
Masken und Handschuhe.“ Mit den getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung
der Covid19-Verbreitung bietet die Besetzung somit einen Schutzraum und
Schutzmöglichkeiten, die sonst im Lebensalltag nicht bestehen.

Die im Zuge der Proteste entstandenen Organisationsstrukturen
ersetzen weitestgehend die Aufgaben, die der Staat übernehmen sollte,
erklärt Adnan: „Wir haben eine Sensibilisierungskampagne nicht nur in
der Besetzung selbst gestartet. Wir gehen durch die Straßen und in die
popularen Nachbarschaften und erklären, wie wir uns vor der Ansteckung
schützen können: zu Hause bleiben, religiöse Versammlungen vermeiden und
so weiter, immer in Respekt der Anweisungen, die von der
Weltgesundheitsorganisation gemacht werden.“

Neben der Präventionskampagne entwickeln die Aktivist*innen auch
Praktiken der gegenseitigen Hilfe. „Um das Problem der
Nahrungsmittelknappheit und der steigenden Preise anzugehen,
organisieren wir in den Arbeiter*innenvierteln die solidarische
Verteilung von Nahrungsmitteln: Reis, Gemüse, Zucker und andere
Grundgüter.“ Und Solidarität hört nicht an den Grenzen auf. Angesichts
der Gewalt, mit der das Virus den Nachbarn Iran
getroffen hat, beschränkt sich das Sammeln von Medikamenten und
Grundgüter nicht auf den Irak. „Wir sammeln Masken, Desinfektionsmittel
und Medikamente, um sie unseren iranischen Genoss*innen zu schicken.“

Das Coronavirus ist vor allem ein Kampf gegen den korrupten Staat und
die von ihm verursachten sozialen Ungleichheiten. Bei unserem Gespräch
bleibt Adnan deshalb kämpferisch: „Die Protestierenden wiederholen
ständig: Wir haben uns nicht zurückgezogen, nachdem ihr uns mit
Tränengas angegriffen habt, nachdem ihre unsere Genoss*innen entführt
habt, nachdem ihr auf unsere Schwestern und Brüder geschossen habt. Wir
bleiben hier. Vaterland oder Tod, ist unsere Losung.“